Jean-Jacques Rousseau wird allgemein als der Entdecker der Kindheit gefeiert. 1762 veröffentlichte er mit Émile, ou de l'éducation das erste Buch, das als Erziehungsratgeber angesehen werden könnte. Weit verbreitet ist die Ansicht, dass davor Kinder einfach nur als kleine Erwachsene betrachtet wurden. Das ist jedoch wenig plausibel.

Zum einen beschreibt Rousseau in Émile ja, wie er sich eine bessere Kindererziehung vorstellt. Dass Kinder erzogen werden müssten, war keine neue Idee. Zum anderen wird wohl zu keinem Zeitpunkt jemals ein erwachsener Mensch ein kleines Kind angesehen und sich gedacht haben: "oh, ein kleiner Mensch. Mit dem kann ich genauso umgehen, wie mit den großen Menschen." Das ist völlig absurd.

Was Rousseau sagte, war: „Man muss den Erwachsenen als Erwachsenen und das Kind als Kind betrachten.“ Gemeint war damit, dass die Kindheit als eigenständige Lebensspanne angesehen werden sollte und nicht als Durchgangsstadium zum Erwachsensein. Er trennte somit die Kindheit von dem Erwachsensein. Er trennte die Kinderwelt von der Erwachsenenwelt. 

In den adligen Schichten war dies sowieso schon üblich. Die Prinzen und Prinzessinnen wurden nicht von ihren Eltern erzogen. Manchmal lebten sie nicht einmal am selben Ort. Mindestens aber bekamen sie ihre eigenen Gemächer und eigenen Erzieher'innen. In den Mittel- und Unterschichten jedoch war es noch so, dass die Kinder in das Familienleben integiert waren. Nicht nur wuchsen sie im Familienverbund auf, sie bekamen auch Aufgaben übertragen, die ihrem Alter und ihren Fähigkeiten entsprachen. Sie wurden kontinuerlich auf ihr späteres Leben vorbereitet. Mit 14 oder 15 gingen sie meist schon in Lehre oder Bauerskinder gingen als Mägde und Knechte auf andere Höfe, um später mal selber einen Hof leiten zu können.

Ist dieses "Durchgangsstadium" so schlecht? Ist es besser, die Kinderwelt von der Erwachsenenwelt zu trennen? Kleinkinder helfen meist super gerne im Haushalt mit. Wir geben ihnen statt dessen Spielzeug, mit dem sie im Kinderzimmer "Haushalt" nachspielen können. Ist das so sinnvoll?

Die von Rousseau propagierte Trennung von Kindsein und Erwachsensein hat dazu geführt, dass später argumentiert wurde, Kinder sollten so lange wie möglich klein gehalten werden. "Kind bleiben" nannten sie das, und "die Kindheit bewahren". Die Kindheit wurde hochstilisiert zu einem unschuldigen, sorgenfreien Paradies. Dies öffnete Tür und Tor für Adultismus. 

Was als guter Gedanke begonnen haben mag - nämlich der Kindheit Raum zu geben -, wurde umgekehrt in ein Gefängnis. Das Kind hat seine gesonderte Stellung in der gesellschaftlichen Hierarchie und darf diese nicht verlassen. Es hat sich unterzuordnen unter den Willen der Erwachsenen, denn es kann ja selber gar nicht wissen, was gut für es ist.

Natürlich brauchen Kinder besonderen Schutz. Aber dazu hat sich Rousseaus Ansatz nicht entwickelt. Kinderarbeit in Fabriken kam erst nach ihm mit der Industrialisierung. Erst seit dem Jahr 2000 ist Gewalt gegen Kinder in Deutschland gesetzlich verboten. Rousseaus Ansatz hat vielmehr dazu geführt, dass die Kinder aus der Mitte der Familie an ihren Rand geschoben wurden. Sie wurden nicht mehr in den Alltag integriert, sondern in die extra erfundene Kinderstube verbannt. 

Kleinkinder sollten nicht mehr am Familientisch essen, nicht mehr im Elternzimmer schlafen, nicht mehr vom Verhalten der Eltern, sondern von ihren Worten lernen. Und gehorchen. Nur vereinzelt gab es Stimmen, die diese Trennung von Kinder- und Erwachsenenwelt wieder aufheben wollten.

"Wer den Kindern dieselbe Möglichkeit gibt, sich mit dem Leben der Erwachsenen vertraut zu machen, wie es die Tiere tun, die eine Absonderung der Jungen nicht kennen, der braucht sich auch um die Erziehung der Kinder mit Worten wenig zu bemühen. Denn das Vorbild und die am Vorbild gesammelte Erfahrung wirken alles ganz von selbst. Man kann das Wort Erziehung streichen und dafür das Wort Vorbild einsetzen."

Erziehungslehre, Ludwig Gurlitt, 1909

Die Kindheit ist ein Reifeprozess. An ihrem Ende steht das Erwachsensein. Sie ist daher ein Durchgangsstadium. Kinder haben keine eigene Lobby. Es liegt daher an uns als Eltern, für sie ihren Platz in der Familie zurück zu erobern. Babys und Kleinkinder brauchen kein eigenes Zimmer, um sich darin aufzuhalten. Sie wollen und sollen bei den Personen sein, die sich um sie kümmern. Miteinander leben, nicht nebeneinander. 

„Wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, daß die Kinder nichts Schlechteres sind als ihre Eltern. Sie sind nur später geboren, nur jünger an Jahren, nur ärmer an Erfahrung. Es ist keine Untugend, ein Kind zu sein. Es ist zumal keine Schuld. Das Kind hat auch keine Verpflichtung, dem Erwachsenen gleich zu sein, auch nicht einmal die Pflicht, dem Erwachsenen ähnlich zu werden. Es hat zunächst nur eine Pflicht, nämlich die: sich seiner Natur, seiner Umgebung, also auch seiner Zeit gemäß zu entwickeln.“
Erziehungslehre, Ludwig Gurlitt, 1909