"Erziehung" ist so ein weit verbreiteter Begriff und dennoch herrscht Uneinigkeit darüber, was er eigentlich bedeutet. Hier eine Zusammenstellung verschiedener Definitionen von Dr Friedrich Kirchner, Oberlehrer am königlichen Realgymnasium zu Berlin, aufgeführt in seinem Buch Katechismus der Pädagogik von 1890.

Was heißt erziehen?

Erziehen ist die absichtliche, zusammenhängende Einwirkung Mündiger auf Unmündige, damit diese dadurch lebendige Glieder am Organismus der menschlichen Gesellschaft werden.

Ziehen, etwas von seiner Stelle fortbewegen schließt einerseits die stetige Bewegung um Gegensatz zum Werfen, andererseits das Folgen des Gegenstandes im Unterschied vom Geworfen- oder Getragenwerden in sich. Im uneigentlichen Sinne zieht der Gärtner Pflanzen, der Kapellmeister sein Orchester. Aufziehen bedeutet, ein Tier oder ein Kind so lange verpflegen, bis es sich leiblich selber versorgen kann. Erziehen hingegen drückt (wie alle Zeitwörter mir er-) das Vollendete und alle Seiten Umfassende aus.

Ähnlich ist der Unterschied von educere und educare.

Zur Vergleichung mit unserer Definition lassen wir noch einige von anderen Pädagogen folgen.

  1. Trapp: Erziehung ist Bildung des Menschen zur Glückseligkeit ("Versuche der Pädagogik" 1780).
  2. Wenzel: Erziehen heißt, den Menschen gut erhalten, ihm die Hand zur Entwickelung im Guten bieten und das Werk Gottes nicht verderben ("Abhandlungen aus der physikalischen und moralischen Erziehungskunst" 1788).
  3. Rudolphi: Erziehung ist nichts anderes, als die Erhaltung und möglichst verhältnismäßige Ausbildung aller körperlichen und geistigen Anlagen und Kräfte eines Kindes ("Über häusliche Erziehung 1789).
  4. I. G. Fichte: Die Eltern werden ihr Kind auffordern zur freien Thätigkeit, und so wird sich denn allmählich Vernunft und Freiheit bei demselben zeigen. Aber mancher Gebrauch der Freiheit würde seiner Erhaltung nachteilig sein, sie werden sonach die Freiheit des Kindes so beschränken, daß der Gebrauch derselben seine Erhaltung nicht in Gefahr bringe. Dies ist der erste Begriff der Erziehung. Die Eltern werden sich aller möglichen Mittel bedienen, um Moralität im Kinde zu entwickeln. Dies ist der Begriff der höhern Erziehung ("Grundlage des Naturrechts". Werke III, 358).
  5. Kant: Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß; - eine Generation erzieht die andre; nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig bessern Zustande des menschlichen Geschlechts, d. h. der Idee der Menschheit gemäß, sollen die Kinder erzogen werden ("Pädagogik" 1803).
  6. Jean Paul: Zum Ziele der Erziehungskunst gehört Erhebung über den Zeitgeist; nicht für die Gegenwart ist das Kind zu erziehen. Über die Erziehung schreiben, heißt beinahe über alles auf einmal schreiben (Levana" 1807).
  7. Nürnberger: Die Erziehung besteht in der Kunst, den Menschen so zu bilden, daß er die Vernunftgesetze als solche, ohne Hinsicht auf Neigung oder Abneigung befolge ("Erörterungen des Begriffs der Erziehung" 1797).
  8. Graser: Erziehung ist die absichtliche Einwirkung Erwachsener auf noch Unmündige, damit diese fähig werden, durch freie Gesinnung und That das Ebenbild der Gottheit in ihrem Leben darzustellen ("Divinität" I. 1811).
  9. Hegel: Die Pädagogik ist die Kunst, den Menschen sittlich zu machen; sie betrachtet den Menschen als natürlich und zeigt den Weg, ihn wiederzugebären, seine erste Natur in eine zweite, geistige umzuwandeln, so daß dieses Geistige in ihm zur Gewohnheit wird (Werke VIII: "Rechtsphilosophie").
  10. Thaulow: Der Begriff der Erziehung ist die Sittlichmachung des Einzelnen und die Pädagogik die Wissenschaft von der Sittlichmachung des Menschen ("Erhebung der Pädagogik zur philosophischen Wissenschaft" 1845).
  11. Schleiermacher: Erziehung ist die Einleitung und Fortführung des Entwickelungsprozesses des einzelnen durch die Einwirkung einzelner bis zur bürgerlichen Selbständigkeit ("Zur Pädagogik" herausgegeben von C. Platz).
  12. Niemeyer: Erziehung und Unterricht im engeren Sinne ist die absichtlich und nach Zwecken unternommene physische und geistige Einwirkung auf den Zögling, wodurch er zum früheren Bewußtsein derselben gebracht und ihnen gemäß ausgebildet werden soll ("Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts" 1818).
  13. Beneke: Der Begriff der Erziehung im engeren Sinne ist: absichtliche Einwirkung Erwachsener auf die Jugend, um diese zu der höheren Stufe der Ausbildung zu erheben, welche die Einwirkenden besitzen und überblicken. Die Pädagogik ist der Hauptsache nach eine angewandte Psychologie ("Erziehungs- und Unterrichtslehre" 1834).
  14. Gräfe: Erziehung ist die absichtliche Einwirkung gebildeter Menschen auf noch nicht gebildete, wodurch diese in ihrer Selbstbildung unterstützt werden ("Allgemeine Pädagogik" 1845).
  15. Rosenkranz: Die Erziehung ist die selbstbewußte Einwirkung eines Willens auf einen andern, sich in ihm nach einer bestimmten Richtung hin hervorzubringen ("Die Pädagogik als System" 1848).
  16. Waitz: Erziehung ist ein planmäßiges Einwirken auf das noch bildsame innere Leben anderer, wodurch diesem Leben eine bestimmte Gestalt gegeben werden soll und wirklich gegeben wird ("Allgemeine Pädagogik" 1851).
  17. Schrader: Die Erziehung hat den Zweck, den Menschen zur möglichsten Vollkommenheit zu führen ("Erziehungs- und Unterrichtslehre" 1876).

Bei diesem breiten Spektrum gilt wohl wirklich: "Man kann nicht nicht erziehen".