Derzeit brennt eine Diskussion darüber, ob Kinderrechte ins Grundgesetz aufgenommen werden sollten. Manche Gegner'innen sind der Meinung, dies würde die Rechte der Eltern beschneiden und der Staat könne einer Familie die Kinder wegen "zu langem Stillen" oder "zu enger Bindung" wegnehmen. Andere Gegner'innen argumentieren, dass das Grundgesetz ja bereits Menschenrechte enthalte, und da Kinder Menschen sind, seien keine weiteren Rechte notwendig.

Sind Kinderrechte in Menschenrechten enthalten?

Nein. Wären sie es, bräuchte es auch den § 1631 (2) BGB nicht, der da lautet:

§ 1631 (2) Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.

Sollen wir das etwa wieder streichen?

Kinder haben aufgrund ihrer Unmündigkeit eine besondere Stellung in der Gesellschaft. Sie haben nicht dieselben Pflichten wie Erwachsene und sie haben de facto nicht dieselben Rechte. Sie sind besonders schutzbedürftig. Und manchmal müssen sie leider auch vor ihren eigenen Eltern geschützt werden. "Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen" sind bis heute noch gang und gäbe in vielen Familien.

Eltern haben das Recht, für ihre Kinder Dinge zu bestimmen, die ihr gesamtes Leben prägen. Welche Religion ein Kind hat(1), welche medizinischen Maßnahmen ihm zur Verfügung stehen(2), welchen Bildungsweg es einschlägt(3), ob es es selbst sein darf(4), all das und mehr bestimmen weitestgehend die Eltern. Und ihre Haltung beinflusst das Selbst- und das Weltbild des Kindes. 

Wir dürfen nicht vergessen, dass selbst Eltern, die körperliche Strafen für richtig und notwendig halten, diese anwenden, weil sie meinen, sie täten dies für ihr Kind. Zu seinem Besten. Darum reicht es nicht, zu sagen "Hauptsache das Kind wird geliebt". Liebe ist ein viel zu schwammiger Begriff.

"Andere vermeintliche Verfehlungen des Kindes, welche von den Erziehern fälschlich gerügt oder bestraft werden, sind nichts als Äußerungen des Schwäche und der Unerfahrenheit. Der verständige Erzieher wird aus der liebevollen Beobachtung des Kindes die Ursache erkennen und entsprechend eingreifen. Er muß beobachten, wann niedere Triebe sich beim Kind bemerkbar machen, sollte dann dem Kinde zur richtigen Zeit beispringen und die ersten Versuchungen überwinden helfen - wenn es sein muß durch einen gut gemeinten Klaps, der manche Tracht Prügel späterer Jahre unnötig macht."
Kinderpflege-Lehrbuch, Dr. med. Arthur Keller, Dr. med. Walter Birk, 1914

"Aber der Staat hat doch jetzt schon genug Möglichkeiten einzugreifen!"

Ist das so? Jede Woche sterben in Deutschland 2-3 Kinder, weil sie von ihren Eltern misshandelt werden. Und dass ein "Klaps" auf den Po schon körperliche Bestrafung und somit verboten ist, ist bis heute nicht zu allen Eltern durchgedrungen.

Erstaunlich viele der Gegner'innen der Kinderrechte kommen aus der Attachment Parenting und Bindungsorientiert Bubble. Sie haben Angst, dass ihnen das "lange" Stillen oder das Familienbett verboten werden könnte. Ja sogar, dass ihnen die Kinder wegen "zu enger Bindung" weggenommen werden könnten.

Da gerade diese Elterngruppe sich häufig Anfeindungen ausgesetzt sieht, sind die Ängste verständlich. Sie sind aber unbegründet. Bei den Kinderrechten geht es ja eben auch darum, die Bindung zwischen Eltern und Kindern zu stärken. Denn das ist die beste Prävention gegen Misshandlungen.

Und selbst, wenn alle Kinderrechte eigentlich implizit in Menschenrechten enthalten sein sollten, so ist es eben manchmal bitter notwendig einige Rechte explizit aufzuführen.

Artikel 3 des Grundgesetzes lautet:

(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

"Gleichberechtigt sein" ist in "gleich sein" eigentlich enthalten. Uneigentlich ist es aber extrem notwendig, diesen Punkt gesondert aufzuführen. Zum einen haben wir bis heute noch keine volle Gleichberechtigung erreicht, zum anderen hilft ein solches Gesetz, die Gesellschaft zu formen. Es ist eine effektive Möglichkeit, die Denkweise der Menschen nachhaltig in eine gerechtere Richtung zu lenken.

Darf ich daran erinnern, dass es noch gar nicht so lange her ist, dass Frauen nicht zugetraut wurde, wichtige Entscheidungen über ihr eigenes Leben zu treffen?(5) Das Wahlrecht mussten wir uns hart erkämpfen. Erst seit den 1970ern dürfen Ehefrauen ohne schriftliche Erlaubnis ihres Mannes arbeiten gehen oder ein Konto eröffnen. Und erst seit 1997 ist Vergewaltigung in der Ehe strafbar. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau wurde 1958 ins Grundgesetz aufgenommen. Offensichtlich hat das nicht gereicht. Weitere explizite Gesetze waren und sind notwendig.

"Frauenspersonen sind im Allgemeinen ebenso Subjecte von Rechten, wie Mannspersonen, sie gelten daher im Staate als Personen im juristischen Sinne dieses Wortes; ausnahmsweise vorkommende Beschränkungen aber sind entweder zum Vortheile der F. eingeführt u. haben ihren Grund in einer häufig bei F. vorkommenden Leichtgläubigkeit u. Gutmüthigkeit, die sie leicht Täuschungen aussetzt, oder sie sind aus der Meinung hervorgegangen, daß durch Besorgung gewisser Angelegenheiten u. Geschäfte F. aus dem ihnen von Natur angewiesenen Wirkungskreise heraustreten würden."
Das Hauslexikon - Vollständiges Handbuch praktischer Lebenskenntnisse für alle Stände - 3. Band, 1835

Kinderrechte im Grundgesetz sollen den Kindern mehr Mitsprache in ihren eigenen Belangen geben (siehe hier unter e).

Aufgekocht ist das ganze Thema übrigens durch eine Petition an den Bundestag und eine Demo in Berlin. Beide gegen Kinderrechte und beide organisiert von reaktionären und neurechten Gruppen. Angestachtelt wurde die Diskussion dann noch durch Outlets wie die Epoch Times, vor denen ich neulich noch gewarnt habe. Ganz offensichtlich wird hier mit Ängsten der Eltern gearbeitet. Das ist eine bekannte Masche der Rechtsextremen. Sie verstehen es mittlerweile ganz besonders gut, gezielt die Ängste von AP- und BO-Eltern zu schüren.

Angst ist kein guter Ratgeber. Wenn Dir eine Petition oder ein Artikel im Internet begegnet, die Dir Angst machen, bitte ich Dich, zuerst einmal tief durchzuatmen und dann nach Original-Quellen zu suchen. Dasselbe gilt, wenn Dich etwas wütend macht. Lies Dir den Gesetzentwurf durch, um den es geht! Lass Dich nicht verunsichern, durch Berichte aus anderen Ländern, wo angeblich genau das passiert ist, wovor die Gegner der Kinderrechte warnen. Wir sind nicht Norwegen, wo angeblich wegen der Kinderrechte reihenweise Kinder aus guten Familien genommen werden. Wir sind aber auch nicht die USA, wo ohne Kinderrechte asylsuchende Familien an der Grenze getrennt werden.

Eine kurze Recherche zeigt schnell, wer hinter der Hetze gegen die Kinderrechte steckt. Da wäre zum Beispiel die "Demo für alle". Eine Organisation, die Familie ausschließlich als "Vater, Mutter, Kinder" definiert und sämtliche anderen Lebenswege ablehnt. Da wäre auch der Frau2000plus e.V., ein Bündnispartner der "Demo für alle" mit ebensolchen antiquierten Ansichten. Auch die oben erwähnte Epoch Times, deren deutsche Ausgabe immer wieder durch die Verbreitung von Verschwörungstheorien und als Plattform für Pegida und AfD auffällt, ist bei der Kritik an den Kinderrechten vorne mit dabei.

Von solchen Leuten sollte sich kein anständiger Mensch vor den Karren spannen lassen. Jede Form von Unterstützung macht sie stärker. Jedes Entgegenkommen macht ihre Position akzeptabler. Und nein, nur weil Deine Meinung in einem Punkt mit deren Meinung übereinstimmt, bist Du noch lange nicht rechts. Aber dann eröffne Deine eigene Petition. Schließe Dich mit Gleichgesinnten zusammen. Verbrüdere Dich aber nicht mit Leuten, die die Freiheit anderer Menschen beschränken wollen.

Der Passus, der ins Grundgesetz übernommen werden sollte, lautet übrigens:

"Jedes Kind hat das Recht auf Achtung, Schutz und Förderung seiner Grundrechte einschließlich seines Rechts auf Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft. Das Wohl des Kindes ist bei allem staatlichen Handeln, das es unmittelbar in seinen Rechten betrifft, angemessen zu berücksichtigen. Jedes Kind hat bei staatlichen Entscheidungen, die seine Rechte unmittelbar betreffen, einen Anspruch auf rechtliches Gehör."

Was diese rechten und reaktionären Gruppen ganz besonders dabei zu stören scheint, ist der Zusatz "in der sozialen Gemeinschaft". Denn was diese Leute wirklich fürchten, ist, dass ihre Kinder in einer offenen und vielseitigen Gesellschaft leben, die deren eigenen Lehren und Meinungen entgegen steht.

Denn was sie wollen, ist die Rückkehr zu alten Familienstrukturen, bei denen Vater, Mutter und Kindern feste Rollen zugeschrieben werden. Sie wollen die Rechte der Kinder nicht gestärkt sehen, weil sie um ihr Entscheidungsrecht und ihre Macht über die Kinder bangen. Sie wollen die Kinder in ihrem Sinne, nach ihrer Gesinnung erziehen. Sie erziehen zur Einordnung in eine Gesellschaft, in der es bessere und schlechtere Menschen gibt; richtige und falsche Lebensweisen. Faschismus und Rassismus werden eben auch im Elternhaus erlernt. Das ist aber weder zum Wohle des Kindes, noch zum Wohle der Gesellschaft.

§1. Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit. Das Recht und die Pflicht der Eltern zur Erziehung werden durch dieses Gesetz nicht berührt. Gegen den Willen des Erziehungsberechtigten ist ein Eingreifen nur zulässig, wenn ein Gesetz es erlaubt. Insoweit der Anspruch des Kindes auf Erziehung von der Familie nicht erfüllt wird, tritt unbeschadet der Mitarbeit freiwilliger Tätigkeit öffentliche Jugendhilfe ein.
Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt, 1924

In Deutschland herrscht ein zwiegespaltenes Verhältnis zu den Jugendämtern. Zum einen haben vereinzelte Fehlentscheidungen von Jugendämtern, die in den Medien hochgekocht wurden, dazu geführt, dass Eltern eine irrationale Angst entwickeln, ihnen könnte -aus welchen Gründen auch immer- ihr Kind weggenommen werden. Zum anderen wird den Jugendämtern Untätigkeit vorgeworfen, wenn mal wieder ein Fall eines toten Kindes Wellen schlägt.

An dieser Stelle muss auch gefragt werden, warum nicht jeder Todesfall durch Elternhand Wellen schlägt. Wir sahen oben, dass es 2-3 pro Woche sind! Schon allein das sollte doch reichen, um Kinderrechte einzuführen.

Aber nein. Wir streiten darum, als ob ein Mehr an Rechten für andere ein Weniger an Rechten für uns bedeuten würde. Die Parallelen zu jedem anderen Kampf um Gleichberechtigung sind in meinen Augen überdeutlich. Es ist die Position von Privilegierten, die nicht wollen, dass Minderheiten und Benachteiligte ihre schöne heile Welt kaputt machen.

Ehe für alle? Dann ist die Ehe nichts besonderes mehr. - Anerkennung von trans Menschen? In meine Welt passen nur zwei Geschlechter. - Vergewaltigung in der Ehe? Ich bestehe auf die ehelichen Pflichten. - Wahlrecht für Frauen? Die haben doch von Politik keine Ahnung. - Explizite Rechte für Kinder? Aber mein Recht als Elter!

Auf dem Weg zu einer kinderfreundlichen Gesellschaft muss auf die Rechte der Kinder gesondert hingewiesen werden. Kinder brauchen besonderen Schutz und ihre Anliegen müssen in den Fokus gerückt werden. Wir müssen Kinder stärken und wir müssen ihre Rechte stärken. Wenn "alle Menschen sind gleich" reichen würde, dann wäre jeder weitere Satz in unserem Grundgesetz überflüssig. Leider ist das nicht der Fall.

Lest zu dem Thema bitte unbedingt auch den Beitrag beim Vereinbarkeitsblog!

(1) Angeblich gibt es bei uns Religionsfreiheit. Aber wie frei sind Kinder in ihrer Entscheidung? Vor allem, wenn ihnen nur eine einzige (egal welche) Religion vorgelebt wird.

(2) Erinnert sich noch jemand an die kleine Olivia Pilhar? Und was denkst Du darüber, wenn einem Kind aus religiösen Gründen eine lebensrettende Bluttransfusion verweigert wird?

(3) Wieviele von uns kennen nicht Sprüche wie "Studier was vernünftiges!" oder "Mein Kind mussauf Gymnasium", auch wenn das Kind vielleicht lieber auf die Realschule ginge? Andersrum kenne ich auch einen Fall, wo die Mutter der Tochter trotz Eignung die höhere Schule verweigert hat, weil sie nicht wollte, dass ihre Tochter "was besseres" wird als sie selber.

(4) "Mein Sohn soll nicht mit Puppen spielen, sonst wird er schwul." Dass es im 21. Jhdt noch Menschen gibt, die so denken, ist ein Trauerspiel, aber es ist so.

(5) Auf Patreon gibt es für Förder'innen des Blogs noch weitere aufschlussreiche Texte zu Rechten und Pflichten aus dem Jahr 1835:
Frauen, Geschlechtsvormundschaft, Emanzipation, Aussteuer, Verlobung, Ehegatten, Ehe, Eltern und Kinder, Scheidung