Wir haben schon mehrfach festgestellt, dass die Säuglingspflege und die Kindererziehung in dem Zeitraum von ca 1830 bis ca 1930 immer strenger und rigoroser wurden. Wir haben das vor allem auf preußische Werte und die Fortschritte in der Medizin zurück geführt. (Nachzulesen z.B. hier, hier und hier.) Was wir aber weitgehend außer Acht gelassen haben, sind die Väter.

Ratgeber wurden zunächst ausschließlich von Männern geschrieben. Erst Ende des 19. Jahrhunderts erschienen erste Werke von Autorinnen und diese standen ihren männlichen Kollegen in Bezug auf die Strenge in nichts nach. Die Beschreibungen in den meisten Ratgebern lassen zu dieser Zeit schon nicht mehr viel Mitgefühl mit dem Schreien des Babys erkennen. Um jedoch lapidar empfehlen zu können, Babys schreien zu lassen, muss schon eine innere Distanzierung von den Signalen und Bedürfnissen von Babys stattgefunden haben. Denn bei aller Sachlichkeit und "Wissenschaftlichkeit" können die Signale des Babys und die Gefühle der Mutter nur empathielos kommentiert werden, wenn sie nicht nachempfunden werden können. Das gilt für alle Autor'innen.

Männer haben die strengen Regeln erfunden und durchgesetzt. Frauen haben sie langsam aber sicher übernommen. Vordergründig wurde diese Entwicklung durch Forschung und Erkenntnis motiviert, doch wie kam es zu der emotionalen Distanz der Männer? Die meisten Forscher und Autoren waren doch auch Väter. Hat ihnen das Weinen ihrer Kinder nichts ausgemacht?

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren Väter wesentlich näher an der Kinderpflege dran als gegen Ende desselben. Sie waren bei der Geburt dabei. Viele Menschen lebten auf engen Verhältnissen. Nicht nur aus Armut, sondern mit Absicht. Babys und kleine Kinder schliefen im Zimmer der Eltern. Der Vater arbeitete von zuhause und allein die Nähe sorgte dafür, dass er eine Bindung zu seinen Kindern aufbauen konnte. Eheleute halfen einander bei der Arbeit.

Im Biedermeier jedoch wandelte sich das Rollenverständnis. Die Aufgaben von Mann und Frau wurden immer stärker getrennt. Die Kleinfamilie wurde zum Ideal, so dass die Mutter immer weniger Hilfe für Haushalt und Kinder hatte. Ihr blieb gar keine Zeit für andere Tätigkeiten. Der Vater arbeitete außer Haus. Wohlstand machte sich breit und getrennte Zimmer waren ein Zeichen davon. Das Patriarchat verfestigte sich.

Somit wuchs leider auch die Distanz zwischen Vätern und ihren Kindern. Das ist traurig, weil die Väter so viel verpassten.

"Seit der Bursche auf der Welt ist, habe ich keinen ruhigen Tag und keine ruhige Nacht gehabt, ausgenommen im Sommer, wo er mit seiner Mutter Waldluft atmete. Sonst aber bin ich nachts aufgestanden, habe den Waschungen, dem Kleiderwechsel und der Abfütterung mit täglich wachsendem Sachverständnis beigewohnt, habe mitunter selber das Kindermädchen gemacht, habe, während ich am Schreibtisch arbeitete, zugleich auf den Knirps achtgegeben und bin in alle Leiden und Freuden seines Säuglingsdaseins ebenso tief eingedrungen wie seine Mutter selbst. (...)
    Der eine hat eben mehr Spaß an Kindern als der andre, und bei mir überwiegt der Spaß den Aerger.
    Und deshalb bin ich beinahe froh, diese enge Klause zu bewohnen. Denn sonst hätte ich alle die kleinen Freuden nicht erlebt, die mir Bubi gemacht hat, und der Kleine hätte sein Tagebuch nicht schreiben können. Allerdings hätte ich dann nachts schlafen und am Tage ungestört arbeiten können, was auch nicht zu verachten ist."
Vorwort: Aus dem Tagebuch eines Säuglings, Abgeschrieben von seinem Vater Karl Eugen Schmidt, 1905

Es ist aber nicht nur für die Väter und ihre Beziehung zu ihren Kindern schade, sondern es war treibende Kraft auf dem Weg zur Schwarzen Pädagogik. Warum?

Ganz einfach. Erziehungsratgeber wurden von Männern geschrieben und verlegt. Von Männern aus den höheren Schichten, in denen die Heraustrennung des Vaters aus der Kindererziehung früher statt gefunden hat als im Rest der Bevölkerung. Frauen durften erst Ratgeber schreiben, als sie dasselbe schrieben wie die Männer.

Mit der Verfestigung der getrennten Rollen trat eine Abwärtsspirale ein, die nicht mehr auzuhalten war, und die wir noch immer nicht vollständig zurück gedreht haben. Das Patriarchat ist für alle Menschen schädlich.