Nicht selten begegnen mir Eltern, die befürchten, dass ihr Kind nie aufhören würde zu stillen, wenn die Mutter nicht aktiv abstillt. Andere Eltern haben Sorge, ihr Kind nicht mehr aus dem Familienbett zu bekommen, wenn sie es nicht zu diesem oder jenem Zeitpunkt daran gewöhnen, alleine zu schlafen.

Diese Ängste sind jedoch unbegründet. In der Beratung erkläre ich den Eltern gerne, dass diese Dinge natürliche Entwicklungsschritte sind, die alle Kinder durch machen. Genauso wie sie eines Tages laufen werden, statt zu krabbeln, so werden sie irgendwann nicht mehr stillen wollen. Genauso wie sie eines Tages sprechen werden, statt zu brabbeln, werden sie dem Familienbett entwachsen.

Niemand von uns hat Angst, sein Kind könne sich so sehr an das Krabbeln gewöhnen, dass es nicht laufen lernen will, oder?

Tja, heute vielleicht nicht mehr. Früher war das anscheinend schon der Fall.

Es ist vergebliche und mehrentheils unnütze Mühe, wenn man die Kinder gehen lehren will. Sie müssens von sich selbst lernen. Die gemeinen Leute lassen gemeiniglich ihre Kinder, ehe sie laufen lernen, auf den Händen und Füßen herumkriechen. Der einzige Nachtheil davon ist, daß sie ihre Kleider besudeln; aber sie bewegen sich mehr, lernen ihre Glieder eher gebrauchen und werden stärker; sie sind denn auch gegen die Gefahr des Fallens am besten gesichert. Man darf nicht fürchten, daß sie sich zu sehr daran gewöhnen: denn wenn sie merken, daß sie Kraft genug haben, so richten sie sich von selbst auf, und lernen nach und nach gehen.

"Anleitung für Landleute zu einer vernünftigen Gesundheitspflege", Heinrich Felix Paulitzky, 1798

Upps! Wer hätte das gedacht? Bisher hatte ich das Krabbeln für ein gutes Beispiel gehalten, da mir die Vorstellung, dass ein Kind nicht laufen lernen will, so absurd erscheint. Doch wie es aussieht, kann einem wirklich jeder normale Entwicklungsschritt suspekt sein!

Die Vorbehalte gegenüber dem Krabbeln hielten sich anscheinend ganz schön hartnäckig in der Bevölkerung, denn auch hundert Jahre später noch wurde dazu aufgerufen, die Kinder doch bitteschön krabbeln zu lassen.

Das Kriechen, die natürliche Vorschule des Gehens, wird nur zu häufig dem Kinde nicht gestattet, obwohl es zu seiner geistigen Ausbildung mächtig beiträgt. Denn die Freiheit, sich zu einem begehrten Gegenstande hinzubegeben, ihn zu besehen und zu betasten, hat das kriechende Kind weit früher, als das nur mit Unterstützung den Ort ändernde.

"Die Seele des Kindes - Beobachtungen über die geistige Entwicklung des Menschen in den ersten Lebensjahren", William Preyer, 1895

Wenn sich diese Sorge um das Krabbeln so lange gehalten hat, kann ich wohl froh sein, dass bisher alle Eltern in meiner Beratung die Vorstellung vom krabbelnden Teenager, dem man als Kind das Gehen nicht beigebracht hat, genauso absurd fanden wie ich. Und es bestärkt die Hoffnung, dass auch andere Entwicklungsschritte in Zukunft so akzeptiert sein werden wie das Krabbeln heute.

Wollen wir nur hoffen, dass es nicht noch hundert Jahre dauert, bis sich rumgesprochen hat, dass kein Teenager noch an Mamas Brust hängen oder bei den Eltern im Bett schlafen will.

Genießt Eure Kinder so lange sie noch klein sind. Genießt jeden Entwicklungsschritt so lange er dauert. Dann ist die Wehmut später auch nicht so groß.

Eure Karin