Heutige Pulvermilch, oder Formula, ist glücklicherweise eine geeignete Nahrung für Babys, die nicht gestillt werden. Die ersten Versuche mit Muttermilchersatz waren da noch weit von entfernt. Hier ein kleiner Einblick in die Anfänge der Pulvermilch.

Wie alt ist Muttermilchersatz?

Die künstliche Kinderernährung im engeren Sinne, d.h. der vollständige Ersatz der Ernährung der Neugeborenen an der Mutterbrust durch Zufuhr von Nahrungsstoffen, die man dem Tier- und Pflanzenreiche entnimmt und einer entsprechenden Zubereitung unterwirft, ist noch verhältnismäßig jungen Datums. Wo von der Ernährung der Kinder mit Brei, Honig etc. bei den Römern und Griechen die Rede war, galt dies immer für die Zeit nach der Entwöhnung oder als Beikost, als Unterstützung bei der Ernährung an der Brust, falls die Mutermilch bezw. die Ammenmilch nicht ausreichend war. Der gänzliche Ersatz der Frauenmilch durch andere Nährmittel ist im Altertum wie gesagt, völlig unbekannt. Nirgend findet man, nach der Aussage von Biedert (l.c.), bei den alten Schriftstellern bis zu den Arabern einschliessliche die Möglichkeit erwähnt, die Neugeborgenen vor der Entwöhnungszeit anders als an der Brust aufzuziehen. Auch in den neueren Werken von Meyer, Niluport, Wachsmuth, Friedländer, Fustel de Coulanges, Guhl und Koner, wo die Sittengeschichte des Altertums auf das genaueste geschildert, fehlt jegliche Mitteilung über künstliche Ernährung des Neugeborenen. Erst im 15.Jahrhundert Metlinger (1473) und später im 16. Jahrhundert Rösslin (1522) weisen auf die Ernährung der Säuglinge mit anderer Nahrung als Muttermilch hin. Die künstliche Ernährung der Säuglinge wurde zunächst rein empirisch betrieben. Tiermilch und insbesondere Kuhmilch galt seit altersher als die einzige für das Kind im 1. Lebensjahre angemessene Nahrung und wurde daher als die berufene Vertreterin der Muttermilch angesehen. Durch Aehnlichkeit des Aussehens sowie des Zweckes, zu dem die Tiermilch von der Natur geschaffen worden ist. wurde man von Anfang an darauf hingewiesen, dieselbe als Ersatzmittel für Frauenmilch zu verwerten.Von einer zielbewussten, mehr oder weniger wissenschaftlich begründeten Methode der künstlichen Ernährung der Säuglinge konnte aber bis zum 18. Jahrhundert gar keine Rede sein.

Zur Entwicklung der Lehre von der Säuglingsernährung, Movscha Leibsohn, 1903

Es dauerte also rund 400 Jahre von den ersten Versuchen, Babys ohne Frauenmilch groß zu ziehen, bis zu einer wissenschaftlichen Herangehensweise durch Justus von Liebig, der mit seiner "Liebig'schen Suppe" den Vorläufer aller heutigen Milchpulver schuf.

Entstehung der Fütterungsregeln

Indem wir die Frage der Nahrungsmengebestimmung berührten, gelangten wir zu einem andern wesentlichen Grundsatz der künstlichen Säuglingsernährung, welcher erst in den letzten Jahrzehnten zu ihrer völligen Würdigung gelang. Man glaubte früher, dass die Nahrungsaufnahme durch das Bedürfnis des Kindes selbst in genügend sicherer Weise geregelt wird, und man stellte dem Säugling die Nahrung in beliebiger Menge zur Verfügung. Die Folge davon war die habituelle Ueberfütterung der Mehrzahl der künstlich ernährten Kinder. Die mechanische Belastung und Reizung des Magens, der Anhäufung unverdauter Massen im Darmkanal, wodurch die Möglichkeit abnormer Gährung und Fäulnisvorgänge gegeben war, führten zu den schwersten Verdauungsstörungen und vereitelten somit alle Bemühungen die Nahrung in ihrer chemischen Zusammensetzung zu verbessern. Erst mit den fortschreitenden anatomisch-physiologischen Kenntnissen von dem Kinde im Säuglingsalter, mit der genaueren Bestimmung der Magenkapazität in den ersten Lebensmonaten, des Nahrungsbedarfes des Säuglings, mit den Untersuchungen über Quantitäten, welche ein normaler Säugling an der Mutterbrust zu sich nimmt, lernte man auch bei der künstlichen Ernährung die Nahrungsaufnahme, die Gesamtmenge pro Tag, die Zahl der einzelnen Mahlzeiten, die Interwalle zwischen denselben nach wissenschaftlichen Grundlagen zu regulieren. Die Zahl der Mahlzeiten soll bei Kuhmilchernährung nicht häufiger sein als bei natürlicher Ernährung (5-6-7), die Interwalle zwischen denselben sollen mindestens 3 Stunden betragen, da die Kuhmilch langsamer den Magen verlässt als Frauenmilch.

Zur Entwicklung der Lehre von der Säuglingsernährung, Movscha Leibsohn, 1903

Nochmal im Klartext: Füttern nach Bedarf führte mit den ersten Ersatznahrungen zu Überfütterung. Also hat man geschaut, wieviel Muttermilch das Durchschnittskind so zu sich nimmt. Diese Menge wurde erlaubt und man musste alles, was das Durchschnittskind an Nährstoffen etc. braucht, in diese Menge stopfen. Wegen der schweren Verdaulichkeit der Kuhmilch wurden Mindesabstände von 3 Stunden eingeführt. Statt also die Ersatznahrung dem Bedarf des Kindes anzupassen, wurde das Kind der verfügbaren Ersatznahrung angepasst.

Ironischerweise wurden diese Abstände später auf das Stillen übertragen.

Warum Kuhmilch?

Betrachtet man den Eiweissgehalt der Milch für die künstliche Ernährung der Kinder für massgebend, so muss man die Stuten- und Eselinnenmilch für die dazu geeignetsten Ersatzmittel der Frauenmilch halten, denn dieselben stehen, wie auch den angeführten Daten hervorgeht, bezüglich ihres Eiweissgehaltes der Frauenmilch viel näher als Kuhmilch. Ausserdem sollen Eselinnen, nach Klemm, niemals an Tuberculose erkranken und somit hätte die Milch derselben gewisse Vorzüge. Indessen hat sich in allen Kulturländern als fast ausschließlicher Ersatz für die Muttermilch die Kuhmilch bewährt, da letztere leicht zu verschaffen ist und dem Preise nach die zugänglichste Tiermilch ist.

Zur Entwicklung der Lehre von der Säuglingsernährung, Movscha Leibsohn, 1903

Sie ist billig und es gibt genug davon. Darum Kuhmilch.

Die Herstellung der ersten Milchpulver

Die 'Liebig'sche Suppe' wurde die Mutter verschiedener Milchsurrogate, unter denen auch eines mit condensirter Milch dargestellt wird. Da es ausgezeichnete Resultate ergiebt, so dürfen wir es nicht übergehen: es ist das Nestle'sche Kindermehl (farine lactée). Anstatt, wie Liebig, durch zugefügtes Malz, führt Nestle (Vevey in der Schweiz) das Stärkemehl des Weizens durch überhitzten Wasserdampf in die löslichere Form (Dextrin) über, läßt dann von diesem Weizenmehle Brod backen und von letzterem nur die kleberreiche Rinde äußerst fein pulvern, hierauf aber mit condensirter Milch und Zucker versetzen. Das fertige, staubförmige Pulver hat einen feinen Geschmack, der an frischgerösteten Zwieback erinnert, und eine Zusammensetzung, welche dem 4fachen Nahrungswerthe der Muttermilch gleichkommt; denn es enthält 1,95% Stickstoff und 0,7% Salze. - Man rührt von diesem Milchpulver für Säuglinge 1 Löffel voll mit 10 Löffeln kaltem Wassers an, läßt es sodann unter Umrühren aufkochen und giebt dies dann durch die Flasche. Später nimmt man 1 Löffel Pulver auf nur 8 Löffel Wasser, kehrt bei Verstopfung auf das anfängliche Verhältniß zurück und giebt bei etwaigen Durchfällen zwischendurch auch mal eine dickere Suppe, im Verhältnisse von 1:6. Größere Concentration als Brei paßt erst für spätere Zeiten. Der Trank schmeckt den Kindern köstlich und sie gedeihen gut. Nur der Preis von 1 Mark 35 Pf. Für jede Büchse(= ½ Kilo) ist etwas hoch.

Das Buch von der gesunden und kranken Frau, Dr. med. Ernst Kormann, 1883

In diesem Präparat war bei weitem nicht alles drin, was ein Baby für ein gesundes Gedeihen braucht. Vor der Erfindung der Pulvermilch wurden Babys jedoch mit noch abenteuerlichen Dingen gefüttert.

Im übrigen ist auch heute in Pulvermilch noch nicht annähernd so viel drin, wie in Muttermilch. Das zeigt eindrücklich diese Liste.

Gründe für das Nicht-Stillen

Wir sahen schon, daß die natürliche Ernährung stetig zurückgeht. Neben der physischen und wirtschaftlichen Unmöglichkeit sprechen dabei noch andere Ursachen mit. Gesellschaftliche Rücksichten, Repräsentationspflichten beeinflussen die Frauen. Manche Mutter stillt nicht aus Unkenntnis, sie ist mangelhaft über die Gefahren der künstlichen Auszucht unterrichtet. Auch die liebe Eitelkeit, die sich nicht die Tailee, die schönen Brüste verderben will, spielt leider noch oft eine verhängnisvolle Rolle. Vielen Müttern ist es eben bequemer, das Kind der Amme, den Dienstpersonen, dem Sauger und der Milchflasche anzuvertrauen, als selbst den kleinen Schreihals zu bedienen und sich seiner anzunehmen. Manche Frau aber verucht zu säugen und läßt sich doch durch wunde Warzen oder leichte Schmerzen, aus Furcht vor Brusterkrankungen wieder davon abbringen zum Schaden des Kindes und ihrer selbst. Schwäche, Blutarmut, Nervosität, Kreuzschmerzen und ähnliche Leiden sind durchaus kein Grund, nicht zu stillen, sie heilen auch meistens bei Stillenden rascher, wie denn überhaupt das Stillgeschäft wesentlich zur Rückbildung der Gebärorgane beiträgt.
Die falschen Anschauungen der oberen Stände bezüglich der Kinderernährung, sie wirken allzu rasch und doppelt schädlich nach unten und wurzeln dort besonders fest.
So wächst der größte Teil der heutigen Jugend mit der Milchflasche groß; ein anderer Teil - wir sahen seine Größe - protestiert gegen die unnatürliche Nahrung durch Erkrankung und frühen Tod.

Die sozialen Ursachen der Säuglingssterblichkeit, Gustav Temme, 1908

Kein großer Unterschied zu heute also.

Verdrängung der Amme durch die Flasche

Ist die Mutter außer stande, selbst zu nähren, und ist das Kind kräftig und gesund, so kann ohne Zögern zur künstlichen Ernährung geschritten werden. Sie kommt wohl auch dort in Betracht, wo die Verhältnisse es nicht erlauben, eine Amme zu halten. Der Lohn für dieselbe beträgt durchschnittlich 360 Mark, mit Geschenken ec. rechnet man 430 Mark. Hierzu kommen die Kosten für bessere Nahrung, Kleidung, eventuell Hin- und Rückreise. Daß die Ernährung durch Kuhmilch hiergegen verschwindend billig ist, liegt auf der Hand. Allerdings käme hierzu der Lohn für eine Kinderpflegerin mit etwa durchschnittlich 210 Mark.
Du musst dich nun entscheiden, liebe junge Mutter. Erlauben es deine Verhältnisse, so gönne Baby wie dir eine erfahrene Amme. Du selbst bist ja noch so gar unerfahren in allem, was Kinderpflege betrifft. Du mußt dir allerdings klar machen, daß du damit auf viele Freuden verzichten und mancherlei Verdruß auf dich nehmen mußt. Bist du sehr thatkräftig und selbstthätig, so wirst du besser thun, Baby mit der Flasche aufzuziehen. Da giebt es keine Scenen, Baby büßt nicht für Diätsünden der Amme, der ganze Hausstand bleibt mehr im Geleise, wenn ich so sagen darf.
Allerdings stellt sie Ernährung durch Kuhmilch an dich selbst die größten Ansprüche. Glaube nicht, daß du einer gemieteten Person die Besorgung des Milchapparates anvertrauen kannst. Du selbst mußt dich im alles kümmern, nur dann wird Baby gedeihen.

Mutter und Kind - Lexikon der Kinderstube, J. von Wedell, um 1900

Die ehrgeizige Dame von Welt gibt also die Flasche selber.

Zum Abschluss ein Schmankerl

Noch nie zuvor habe ich einen Text gelesen, der das Offensichtliche mit so viel Inbrunst als bahnbrechende Erkenntnis darstellt wie der folgende. Als ich ihn das erste Mal gelesen habe, musste ich herzlich lachen. (Kommentare in Klammern von mir)

Die Tatsache aber der Ernährung der neugeborenen Kinder an der Mutterbrust ist eine uralte (Sach bloß!). Diese Ernährungsweise galt in allen Zeiten und bei allen Völkern, so weit historische und ethnographische Berichte vorliegen, als die 'naturgemässe'. (Echt jetzt?) Der Mensch wurde instinktiv darauf hingewiesen, die Milchsekretion der Mutter, welche sich im Anschluss an die Entbindung bildet, zum Zwecke der Ernährung des Neugeborenen zu verwerten, ohne es zu ahnen, dass gerade dieser Weg der richtige sei. (Ja, Wahnsinn!)

Zur Entwicklung der Lehre von der Säuglingsernährung, Movscha Leibsohn, 1903

Na, hättet Ihr das gedacht, dass das Stillen biologisch normal ist?

Was möchtet Ihr noch über Milchpulver wissen?