In den nächsten drei Wochen dreht sich im Blog alles ums Stillen und Nichtstillen. Den Anfang machen einige Statistiken. Wir betrachten die unterschiedlichen Stillquoten von ehelich und unehelich Geborenen, die Nutzung von Ammen als Zeichen von Wohlstand, häufig genannte Gründe für das Nichtstillen, sowie die unterschiedliche Anfälligkeit für Krankheiten bei gestillten und nicht gestillten Kindern.

Stillquoten von unehelichen und ehelich Geborenen

Laut der Volkszählung von 1885 wurden in Deutschland von 1000 ehelichen bzw. unehelichen Kindern im x. Lebensmonat gestillt:

im  1. Monat 2. Monat 3. Monat 4. Monat 5. Monat 6. Monat 7. Monat 8. Monat 9. Monat 10. Monat 11. Monat überhaupt
von den ehelichen Kindern 762 682 628 573 555 554 551 537 502 470 449 576
von den unehelichen Kindern 601 356 366 327 321 318 302 280 324 285 270 353

Quelle: Jahrbücher für Nationalökomonie und Statistik, Band 62, 1894

Da die Mütter unehelicher Kinder häufiger außer Haus erwerbstätig sein mussten, fiel die Stillquote bei diesen schon im zweiten Lebensmonat auf 35,6% und war somit niedriger als die Stillquoten ehelich geborener Kinder im gesamten ersten Lebensjahr.

Anteil der Ammen

Die folgende Tabelle von 1890 führt auf, wieviele Kinder von Mutter oder Amme gestillt wurden in Abhängigkeit von der Größe der Wohnung als Zeugnis des Wohlstands. Dies zeigt zum einen, dass Ammenhaltung ein Privileg der Reichen (und gleichzeitig eine Ausbeutung der für gewöhnlich aus armen Verhältnissen stammenden Amme) war. Zum anderen zeigt die Tabelle, dass der Mittelstand die geringste Stillquote aufweist, da diese Mütter schon seltener stillen als die aus den unteren Schichten, sich aber noch nicht so häufig eine Amme leisten können, wie die Mütter aus den oberen Schichten.

  von der Mutter gestillt von der Amme gestillt überhaupt gestillt
1 Zimmer 58,4% 0,0% 58,4%
2 Zimmer 56,4% 0,1% 56,5%
3 Zimmer 49,3% 0,7% 50,0%
4 Zimmer 37,9% 4,7% 42,6%
5 Zimmer 31,1% 14,2% 46,3%
6 Zimmer  21,0% 25,6% 46,6%
> 6 Zimmer 17,5% 31,8% 49,3%

Quelle: Beiträge zur Geschichte der Bevölkerung in Deutschland seit dem Anfange dieses Jahrhunderts, Band III, Friedrich Julius Neumann (Hrsg.), 1889

Gründe fürs Nichtstillen

Aus Befragungen von Müttern, deren Kinder in den Jahren 1861-1886 in der Poliklinik in München behandelt wurden, ergaben sich folgende Gründe fürs Nichtstillen:

  Ursachen des Nichtstillens (830 Fälle)  
A) Physische. Kind fasst die Warze nicht 33
  Warze.  
  Wunde Warzen 4
   Schlechte Warzen 5
  Brustdrüse.  
  Kranke Brust 14
  Zu wenig Milch 89
  Mutter.  
  Krankheit (incl. Puerper.) 32
  Schwäche 34
  Stechen auf der Brust 14
  Verdacht der Lungenkrankheit
oder ausgesprochene Phthise
24
  Blutarmuth 2
B) Ethische. Indolenz 29
  Ignoranz 1
  Mutter genirt sich wegen der grösseren Kinder 2
C) Sociale. Mutter im Dienst 89
D) Fremde. Durch Aerzte 29
  Durch Hebammen 50
  Durch Nachbarn 6
gesamt   428

 

Ursachen Fälle Anteil  
A. Physische 251 58,7%  
B. Ethische 32 7,4%  
C. Sociale 89 20,8%  
D. Fremde Beeinflussung 56 13%  

Die Ursachen und Folgen des Nichtstillens bei der Bevölkerung Münchens, Inaugural Dissertation, Dr. Fritz Büller, 1887

Krankheiten gestillter und nichtgestillter Kinder

Vorweg: es gibt keine "vererbte Inaktivitäts-Atrophie der Brustdrüse". Laktation (Milchbildung) ist eine biologische Gegebenheit. Körperliche Beeinträchtigungen, die sich auf die Milchbildung auswirken, mögen zwar teilweise vererbbar sein, aber Nichtstillen in einer Generation vermindert nicht die Milchbildungsfähigkeit der nächsten Generation. Nun ist Stillen im Gegensatz zur Laktation allerdings ein sozio-kulturell erlerntes Verhalten. Der Entschluss zum Nichtstillen in einer Generation hat daher durchaus Folgen auf die Stillfähigkeit der nächsten. 

Gumblowicz hat das Material der Grazer pädiatrischen Klinik in Bezug auf die Ernährung der im Säuglingsalter stehenden Kinder untersucht und gefunden, dass unter 339 in die Klinik aufgenommenen Kindern
an der Brust ernährt waren 183 = 54%
künstliche ernährt waren 155 = 46

Die Brust war gereicht worden:
unzureichende Zeit (unter 4 Mon.) in 55%
genügende Zeit (4-12 Mon.) in 34
übermässig lange Zeit (über 1 Jahr) in 11

Der Grund für diese ungünstigen Verhältnisse liegt nach G's Meinung zum Theil darin, dass die Mütter, meist ledige Arbeiterinnen und Dienstmädchen, des Erwerbs wegen den Kindern ihre Zeit nicht widmen können, theils in einer durch Generationen vererbten Inaktivitäts-Atrophie der Brustdrüse. Unzweckmässige Kleidung oder andere unhygienische Gebräuche scheinen keine Schuld zu haben.

Rachitische Erscheinungen zeigten
von 183 Brustkindern 52 = 28,4%
davon starben 6 = 3.3
von 155 künstlich ernährten Kindern 78 = 50,3
davon starben 12 = 7,7
Dagegen erkrankten an Tuberkulose
von 183 Brustkindern 30 = 16,4
davon starben im Spitale 16 = 8,7
von 155 künstlich ernährten Kindern 23 = 14,2
davon starben 9 = 5,6

G. erklärt letztere auffallende Erscheinung damit, "dass bei Kindern tuberkulöser Mütter die Uebertragung des specifischen Krankheitsgiftes, und zwar insbesondere die Infektion des Darmkanals durch die tuberkulöse Muttermilch, den an sich günstigen Einfluss der Brusternährung aufwiegt, wo nicht übercompensiert".

Schmidt's Jahrbücher der in- und ausländischen gesammten Medicin, Bände 229-230, 1891

Mehr übers Stillen in früheren Zeiten erfahrt Ihr im Webinar Brusternährung und Säugegeschäft. Auch als Aufzeichnung bei PatreonAufzeichnung bei Patreon.