Im 19. Jahrhundert gewannen Ärzte immer mehr Einfluss auf die Kindererziehung. Um ihre neumodischen Regeln und Methoden zu verbreiten, mussten sie sich vor allem gegen Traditionen durchsetzen. Das wiederum bedeutete, die Erziehung der Großmütter zu diskreditieren. Im folgenden sehen wir einige Beispiele dafür in chronologischer Reihenfolge. Es wird deutlich, dass der Ton immer harscher wird, analog zur steigenden Härte in den Erziehungmethoden.

Christian August Struve, 1803

"Die Erziehung der Kinder, muß den Eltern allein überlaßen seyn, vorausgesetzt, daß diese ihr Kind zu erziehen wißen. Keine Basen, Tanten und Großmütter müßen einen Theil des Erziehungs-Geschäftes, das den Eltern allein zukommt, übernehmen; selten sind diese über Erziehung aufgeklärt genug; oder haben Festigkeit genug. Sie verziehen die Kleinen aus gutmeindender, übermäßiger Zärtlichkeit, verwöhnen sie durch Geschenke und Liebkosungen, wollen sie so erzogen wißen, wie sie vor einem halben Jahrhunderte und drüber erzogen wurden, wo man vornehmlich in der physischen Erziehung weit zurück war, oder sie wollen die Kinder nach sich behandeln. Das kleine Mädchen in einem Flügelkleide soll schon eine Großmutter seyn; sie dringen daher sehr auf das Warmhalten, weil sie sich in ihrem Alter warm halten müßen &c. - Ausnahmen giebt es überall; brave Großmütter, die Verstand genug haben, sich nicht unnötiger Weise in die Erziehung ihrer Enkel zu mischen, oder Biegsamkeit und Geschmeidigkeit, auch das Neuere, in so fern es das bessere ist, anzunehmen."

Ueber die Erziehung und Behandlung der Kinder in den ersten Lebensjaren. Dr. Christian August Struve, 1803

Dr. J. N. Müller, Dompräbendar an der Metropolitankirche, 1830

"Väter, sehr viele Väter entziehen sich ganz der heiligen Pflicht, ihre Kinder zu erziehen, unter dem nichtigen, gehaltlosen Vorwande: von den vielen Geschäften ihres Berufes ohnehin zu sehr in Anspruch genommen zu seyn, als daß sie mit der Erziehung und Bildung ihrer Kinder sich befassen könnten. (...) 

Auch der Mütter gibt es viele, die ihrem erhwürdigen Berufe durchaus nicht entsprechen. Nur ihr eigenes Wohl haben sie im Auge, und an diesem arbeiten sie rastlos. Aber es ist nur das Wohl, das die Welt bieten kann, Augenlust, Fleischeslust und Hoffarth des Lebens. (...)

Was die Mutter durch ihr böses, leichtsinniges, üppiges, genußsichtiges Leben an des Kindes Verderben nicht zu vollenden vermag, geschieht durch Großmütter, Tanten, Wärterinnen. Alles, was einen nachtheiligen Einfluß auf das körperliche Wohl des Kindes haben könnte, wird von diesen sehr sorgfältig vermieden, auch alle körperliche und geistige Anstrengung. Das Herz blutet denselben, wenn der Liebling weint. Sie sind in ihres Abgotts Dienst, und dennoch ist dieser nichts anderes, als ihr Spielzeug. Eigensinn heißt Unpäßlichkeit, tobende Ungezogenheit und Zügellosigkeit gilt für energische Kraft; Dummdreistigkeit heiß kindische UNbefangenheit; Schüchternheit vor Jedermann unbegränzte Zärtlichkeit gegen die Mutter, Großmutter &c. Es bemerkt dies der wackere Tillich. (In den Beiträgen zur Erziehungskunst 2r Bd. 1. Heft) So schlagen Verwähnungen, Verweichlichungen, Charakterschwächen, und eine Menge selbstsüchtiger Bestreungen in der Kinder Herzen tiefe Wurzel, was Alles in spätern Jahren - nicht mehr ausgerottet werden kann."

Ueber das Eine, was bei der Erziehung und Bildung unserer Jugend vorzüglich Noth ist. Dr. J. N. Müller, Dompräbendar an der Metropolitankirche, 1830

Heunisch, 1853

"Großmütter und Tanten, deren jene im Umgange mit ihren Enkeln sich verjüngen, diese im Umgange mit ihren Neffen das Leben von einer neuen Seite genießen wollen, thun oft, was die Zärtlichkeit der Mutter glücklich vermieden hat, - hegen den Egoismus des Zöglings mit Geschenken, mit Schmeicheleien, auch mit Widerstand gegen den Ernst der Zucht. Tritt nun der Jüngling aus dem Hause, das ihn wie auf den Händen getragen hat, so kann er die rauhe Luft des neuen Lebens nicht ertragen; er sucht Gesellen, die ihm schmeicheln, und flieht Männer, die ihn strafen. Willkommen ist ihm nur, wer die Rolle der Großmutter, der Tante an ihm und mit ihm spielt. Er ist ein gemachter Egoist."

Lehrbuch für Erziehung und Unterricht, zunächst für Schulseminaristen, Lehrer und Erzieher. Heunisch. Verlag des Taubstummeninstitutes zu Bamberg (Hrsg), 1853

Dr. W. J. G. Curtman, 1866

"Unter den Verwandten spielen die Großeltern eine vorzüglich wichtige Rolle. Gewisse Rechte über die Enkel können ihnen auf keinen Fall abgesprochen werden; sind sie ja doch die rechtlichen Stellvertreter der Eltern, falls diese sterben. Auch fehlt es ihnen nicht an einer natürlichen Liebe zu den Enkeln, welche jenen Rechten eine sittliche Unterlage gibt. Nur das Uebermaß dieser Liebe oder das Uebergewicht derselben über die Vernunft ist es, was ihnen ziemlich allgemein vorgeworfen wird, und wodurch sie zur Erziehung unteuglich sein sollen. Vielleicht ließe sich jedoch erweisen, daß sie noch tauglicher zu wirklichen Erziehern als zu Miterziehern sind. Denn es scheint nicht sowohl Altersschwäche Ursache des Mangels an Energie ihrer Erziehung zu sein, als vielmehr die Ansicht von ihrem Verhältniß zu den Enkeln. Gibt es ja doch Großväter und Großmütter genug, welche körperlich und geistig kräftig genug sind, um in ihren sonstigen Handlungen keine Schwäche zu verrathen, welche gleichwohl den Enkeln gegenüber die ihren Jahren zustehende Weisheit verleugnen. Allerdings wird es dem Menschen, je älter er wird, desto schwerer, sich aus sich selbst heraus zu denken und in die kindlichen Vorstellungen einzugehen; allein es gibt ja doch alte Lehrer in Menge, welche noch Freundlichkeit und Hingebung genug besitzen, um die Jugend mit dem größten Erfolge zu unterrichten, und zum Theile auch zu erziehen; warum sollen es bei den Großeltern gerade die Jahre verschulden? Eine wirksamere Ursache ist wohl die Unterbrechung ihrer Erziehungsthätigkeit und die Ungewohnheit, mit Kindern umzugehen, welche sich ja oft auch bei den Eltern gegen Spätgeborne nachtheilig erweist. Hauptursache aber ist wohl, daß die Großeltern ihren Antheil an der Erziehung der Enkel nicht als eine Pflicht, sondern als ein Spiel, als einen genuß betrachten, wozu noch kommt, daß nachdem die sinnliche Zärtlichkeit gegen Erwachsene erstorben ist, diese gegen die Kleinen in anderer Weise wieder erwacht. Sind ja doch andere Verwandten den Großeltern hierin oft ganz ähnlich. Mag indessen die Ursache sein, welche sie will, die Thatsache steht richtig, daß die Miterziehung der Großeltern häufig eins der größesten Hindernisse der guten Erziehung ist. Und dies Hinderniß ist desto größer, je häkliger es für die eigenlichen Erzieher ist, so geehrten Personen beschränkend entgegenzutreten. Abhülfe dieser Mißverhältnisse ist vor Allem von der allgemeineren Verbreitung pädagogischer Einsichten zu erwarten. Wer einmal gewohnt ist, über die Erziehung zu denken, und dem Ergebniß dieses Denkens gemäß sich Pflichten aufzulegen, der wird auch als Großvater oder Großmutter nicht den bloßen Eingebungen des Augenblicks folgen. Wo aber die pädagogische Bildung die ältere Generation noch nicht erreicht hat, da wird die Aufgabe der Erziehung allerdings eine ungemein schwierige.

Sich verständigen, so weit es mit alten Leuten überhaupt möglich ist, immer und immer wieder von dem Erziehungszweck und den Erziehungsgrundsätzen reden, wird immer schon Etwas bewirken, mindestens Scheu vor auffallenden Mißgriffen. Ferner wird der Erzieher sein eignes Benehmen nach Maßgabe des Einflusses der Großeltern modificiren müssen. Gehören sie ganz zur Familie, so muß er gewissermaßen alle ihre pädagogischen Fehler zu periren sichen; kommen sie nur besuchsweise mit den Enkeln zusammen, so muß er diese schon darauf vorbereiten, gleichsam auf Festtage, an welchen die Alltagsregeln einmal vernachlässigt werden mögen, welche aber nicht oft kommen dürfen.. Die Autorität der Großeltern natürlich nie positiv herabgesetzt werden, indessen hat es doch, wenn höhere Zwecke ins Spiel kommen, weit weniger zu sagen, wenn die Kinder merken, daß die Großeltern aus Schwäche handeln, als die Eltern. Man braucht es wenigstens nicht durch künstliche Mittel zu verdecken."

Lehrbuch der Erziehung und des Unterrichts, Erster Theil. Die Erziehungslehre. Dr. W. J. G. Curtman, 1866

Dr. Ferdinand Schultz, Director des Kaiserin-Augusta-Gymnasiums zu Charlottenburg. 1876

"Wir haben bisher nur vom Hause im allgemeinen gesprochen. Dasselbe setzt sich aber je nach den Umständen aus sehr verschiedenen Gliedern zusammen, deren jedem ein Antheil an der Erziehung zufällt. In dem einen sind beide Eltenr am Leben und können sich der Erziehung ihres Sohnes widmen, in dem andern ist eins der beiden gestorben oder es ist ihm die Möglichkeit genommen, ein wachsames Auge auf dieselbe haben zu können. Zu den Eltern kommen in vielen Häusern noch erwachsene männliche oder weibliche Verwandte. Alle diese Umstände kommen bei der häuslichen Erziehung in Betracht; alle Glieder aber müssen auch der Pflicht, zu derselben beizutragen, sich recht bewußt werden. Die Einwirkung derselben auf die Erziehung darf aber nicht planlos geschehen, sondern muß bestimmten Grundsätzen unterworfen sein, falls sich nicht alsbald Schwankungen in der sittlichen Entwickelung des zu Erziehenden bemerkbar machen sollen. Diese Grundsätze zu bestimmen und über ihre Durchführung zu wachen, ist Aufgabe des Leiters der Erziehung, sei es das Oberhaupt der Familie, der Vater, wo er noch lebt, sei es, wo dieser gestorben ist, die Mutter oder irgend ein Seitenverwandter. Je nach der Denkweise desselben werden die Mittel der Erziehung gewählt und je nach seiner Characterstärke auch planvoll und consequent angewendet werden; diesen beiden Eigenschaften des Leiters werden auch die Resultate entsprechen. Characterfestigkeit kommt der Natur der Sache nach zwar vorzugsweise dem Vater als Mann zu; sie darf aber auch von der Mutter gefordert werden, und sie muß gefordert werden sowohl von der Mutter, wenn ihr durch Umstände die alleinige Erziehungspflicht zufällt, als auch von jedem, der in die Lage kommt, die Erziehung eines Unerwachsenen zu leiten. Das Angemessenste wäre es freilich, wenn die eigentliche Leitung der häuslichen Erziehung jedesmal von dem Characterfestesten in der Familie übernommen würde, doch ist die Gestaltung der häuslichen Verhältnisse manchen von außen unberechenbaren Umständen und Rücksichten unterworfen. Auf der anderen Seite sehen wir allerdings meist auch wieder den Characterfestesten in der Familie entscheidenden Einfluß üben, so daß diesem oft schon von selbst die Leitung der Erziehung in die Hand fällt. Und so finden wir bald einen Oheim, bald einen älteren Bruder in dieser Stellung; ja es steht keineswegs vereinzelt da, daß selbst ältere Schwestern diese Aufgabe in glänzender Weise gelöst haben. Wer es aber auch sein mag, soviel steht fest, daß die Straffheit der häuslichen Erziehung in ihrer Wirkung sich sofort in der Schule bemerkbar macht, ebenso wie dies bei den Gegenströmungen der Fall ist, die bei Schwäche des Leiters niemals, aber auch bei starker Leitung selten ganz fehlen und oft den verderblichsten Einfluß auf den zu Erziehenden üben. Dergleichen Gegenströmungen gehen häufig von den weiblichen Angehörigen des Hauses aus sind ja doch Großmütter und Tanten in dieser Beziehung sogar sprichwörtlich geworden. Tritt aber zu diesen Einflüssen noch obenein Schwäche des Leiters hinzu, so ist auch die stärkste Schule nicht im Stande, erfolgreich entgegenzuwirken, sondern sie muß nach langer vergeblicher Arbeit und Erschöpfung aller Mittel in einem solchen Fall den Schüler aufgeben und seine Erziehung dem Hause allein überlassen."

Die häusliche Erziehung im Zusammenhang mit der Schule. Dr. Ferdinand Schultz, Director des Kaiserin.Augusta-Gymnasiums zu Charlottenburg. 1876

Prof. Adalbert Czerny, 1908

"Die meisten Erziehungsfehler betreffen das erstgeborene Kind, besonders, wenn es erst nach mehrjähriger Ehe zur Welt kommt. Noch mehr Erziehungsfehler kann man aber beobachten bei Erstgeborenen sehr alter Eltern oder bei Nachzüglern, welche nach einer Pause von 10 bis 20 Jahren folgen. Dagegen lehrt die Erfahrung, daß die Kinder am besten davonkommen, deren Eltern relativ jung sind. Ältere Menschen sind immer weichherziger, nachsichtiger gegen Kinder, und ihre Milde nimmt Formen an, welche sie zur Erziehung von Kindern ungeeignet machen. Aus diesem Grunde sind auch Großmütter und alte Tanten für Kinder, denen sie ihre Gunst zuwenden, oft kein Vorteil. (...)

Eine dieser Beobachtungen bezieht sich auf Mütter, noch mehr auf Großmütter. Rasch wird vergessen, wie ein Kind im ersten Jahre genährt wurde, wie es erzogen wurde, selbst dann, wenn sich dazu bei mehreren Kindern Gelegenheit fand. So kommt es, daß Großmütter sich in dem Glauben befinden, genaue Kenntnisse über Kinderpflege zu besitzen, ohne daß dies tatsächlich zutrifft. Es wäre oft wertvoll, wenn die Großmütter noch genau wüßten, wie sich ihre Kinder als Säuglinge verhalten haben. Denn an den Enkelkindern wiederholen sich manchmal gesetzmäßig alle Erscheinungen und Schwierigkeiten, welche schon bei den Eltern im Säuglingsalter vorhanden waren. Diesen Vorteil geben aber die Erinnerungen der Großmütter nur in der Minderzahl der Fälle ab, und zumeist führen ihre Erinnerungsdefekte nur zur Unzufriedenheit mit den Enkelkindern oder zu unhaltbaren Ratschlägen, welche selbst zweckmäßigen Anordnungen eines Arztes hindernd im Weg stehen.
Der ungünstige Einfluß, welchen Großmütter oder alte Eltern auf Säuglinge und nicht selten auch jüngere Eltern auf den Erstgeborenen ausüben, beruht darauf, daß sie die Kinder nicht erziehen, sondern sich selbst vollständig den Launen und Wünschen der Kinder unterziehen. Sie stehen auf dem Standpunkt, daß es ihre vornehmste Aufgabe ist, dem Kinde jeden Wunsch an den Augen abzusehen und denselben so schnell als möglich zu erfüllen und überdies noch alles zu tun, was ihnen für das Kind angenehm erscheint. Sie verlieren ihre Macht über die Kinder schon im ersten Lebensjahre derselben, und dies hat zur Folge, daß die Kinder schon im zweiten und dritten Lebensjahr das Haus terrorisieren."

Der Arzt als Erzieher des Kindes, Prof. Adalbert Czerny, 1908