Das Ammenwesen ist ein uraltes Phänomen. Dementsprechend hat es sich über die Zeit sehr verändert.Wir haben bereits ausführlich das Ammenwesen im 19. Jahrhundert behandelt. Hier beschreibt der Anthropologe Hermann Heinrich Ploss das Ammenwesen im Altertum.

"Der Ersatz der Mutter als Ernährerin ihres Säuglings durch eine Amme ist eine sehr alte Institution. Ammen mietheten schon die alten Juden der Bibel, die alten Inder zu Susrutas' Zeit, die alten Griechen zu Homer's Zeit und die alten Römer.121 Bei den alten Juden der Bibel stillten allerdings in der Regel die Mütter ihre Kinder selbst (1. B. Moses 21, V. 7; I. Sam. 1, V. 23; 1. Könige 1, V. 23; 2. Maccab. 7, V. 28). Nur in fürstlichen Familien (2. B. Sam. 4, V. 4; 2. Könige II, V. 2), oder wo die Mutter fehlte oder durch Kränklichkeit verhindert war, wurde das Säugen durch Ammen verrichtet, die später von ihren Zöglingen noch sehr hoch gehalten wurden. Als Rebekka das Haus ihres Vaters verliess, um den Isaak zu heirathen, gab man ihr ihre Amme zur Gesellschaft mit. Bei den alten Juden der Bibel galt es geradezu für eine Pflichtvergessenheit, ja als «Grausamkeit,» wenn eine Mutter die Sorge für ihr Kind Anderen überliess. Eine Mutter, die ihrem Kinde nicht selbst die Brust reichte, wurde mit den Straussenhennen der Wüste verglichen, die, nachdem sie ihre Eier in den Sand gelegt haben, sich nicht weiter um sie kümmern. Selbst Schakale, sagt die Genesis, können einer solchen Frau als Vorbild dienen, denn auch Schakale reichen die Brüste, säugen ihre Jungen. Sogar höhere Frauen scheuten sich nicht zu säugen; E. C. J. v. Siebold irrt, wenn er behauptet, dass die Sorge des Säugens allgemein Ammen anvertraut war. Sowohl Mütter, als Ammen pflegten die Kinder sehr spät zu entwöhnen, nach den Rabbinen oft nach zwei Jahren. Beim Entwöhnen wurde ein feierliches Opfer dargebracht und ein grosses Mahl in der Familie gehalten, wobei man dem «von der Milch Entwöhnten» zum erstenmale die gewöhnliche Kindernahrung, Milch und Honig, darreichte .

Bei den Griechen war die Ernährung des Kindes meist Pflicht der Mutter, doch hielten sich Wohlhabende immer Ammen, wozu sich in Athen auch arme Bürgerfrauen hergaben. Ja man kaufte für Alcibiades eine spartanische Amme, denn die Spartanerinnen hatten als Kinderwärterinnen grossen Ruf. Auch hier spielten die im Hause bleibenden Ammen im Familienleben eine grosse Rolle. Schon sehr früh müssen die Griechen Ammen gehabt haben; ihre Mythe spricht von den Ammen des Bacchus (Ino, die Hyaden). Noch jetzt hat die Amme (Paramana) im Hause vornehmer Griechen eine geachtete Stellung.

Bei den Römern stand die Dea Rumina dem Säugungsgeschäft vor; die erste Speise des abgesetzten Kindes war der Diva Educa oder Edusa, das erste Glas Milch der Diva Potina geheiligt. Bekanntlich gaben die Römer zur Zeit der bei ihnen heimischen Verweichlichung ausländischen Ammen den Vorzug. Tacitus eifert mit Entrüstung gegen die Unsitte, den Kindern als Ammen gekaufte Sklavinnen zu geben. Er sagt, dass es ehemals in Rom deshalb bedeutendere Männer gegeben habe, weil früher alle Mütter, sogar edle Frauen, ihre Kinder selbst stillten und erzogen, keineswegs griechischen Sklavinnen übergaben. Zwar wussten aufgeklärte Aerzte, wie Moschion, recht wohl, dass die Muttermilch dem Kinde zuträglicher sei, dennoch rieth auch er, eine Amme zu nehmen. Unter den Eigenschaften, welche nach Moschion eine gute Amme besitzen soll, ist auch die angeführt, dass sie eine Griechin ist.

Den Arabern und übrigen Bekennern des Islam schrieb Muhamed im Koran vor: «Es ist Euch auch erlaubt, eine Amme anzunehmen, wenn Ihr derselben den vollen Lohn der Gerechtigkeit nach gebt.»

Bei den alten Indern erhielt das Kind, wie Susrutas sagt, am ersten Tage Honig und geklärte Butter mit Panicum dactylum (Ananta) gemischt dreimal täglich unter feierlichen Segenssprüchen ; am 2. und 3. Tage aber Butter mit «Lakshmana» bereitet. Von nun an durfte man ihm täglich zweimal die bis dahin verbotene Milch mit Honig und gereinigter Butter gemischt reichen, so viel, wie in eine Hohlhand geht. Dann gab man ihm, nachdem es am 10. Tage unter religiösen Ceremonien seinen Namen bekommen hatte, eine Amme aus der betreffenden Kaste. Dies fand, wie es scheint, in der Regel statt. Bei der Wahl der Amme musste nach Susrutas Ayurvedas darauf gesehen werden, dass sie von mittler Grösse und mittlerem Alter sei, nicht krank, hübsch, nicht zitternd, nicht lüstern, nicht zu mager und nicht zu dick sei,dass sie gute und reichliche Milch habe, aber keine hervorragenden Lippen, keine vorhängenden oder aufsteigenden Brüste; dass sie ohne Verstümmelung und Leibesschäden sei; dass sie sich zärtlich gegen das Kind benehme, reich an Liedern und von sanftem Gemüth sei, sich nicht gemein betrage, aus guter Familie gebürtig, in den meisten Dingen gut geartet und brünett sei. Die altindischen Aerzte glaubten, dass durch eine Amme mit sehr aufwärtsstehenden Brüsten das Kind «terribilis» werde (so nach Hessler; die Uebersetzung Vullers': «eine mit hohen Brüsten versehene macht gross», ist vielleicht richtiger), und dass dasselbe bei vorhängenden Brüsten der Amme durch Verschliessung seiner Nasenöffnung sterben (ersticken) könne.

Dann prüfte der altindische Arzt auch die Milch. Er hielt sie für rein, wenn sie kalt, in Wasser getröpfelt hell, dünn, klar, von gleichmässiger Farbe, nicht schaumig und nicht fadenförmig sich zeigt, nicht obenauf schwimmt und nicht niedersinkt. Er verbot aber, dass dem Kinde die Milch einer Frau gereicht werde, welche durch ungenügende Nahrung, Gram, Strapazen, körperliche Uebel, Krankheiten während der Schwangerschaft gelitten hatte, die abgezehrt oder zu wohl beleibt ist und durch unpassende Speisen sich ernährt hat. Wir übergehen die in Susrutas Ayurvedas ausführlich besprochene Diät und Therapie der durch unpassende Diät erkrankten Säuglinge. Musste dem Kinde Milch von Thieren gegeben werden, so verordneten sie Ziegen- oder auch Kuhmilch. Dem halbjährigen Kinde liessen sie nebenbei eine leichte Kost reichen. Die altindischen Aerzte wussten recht wohl, dass durch verdorbene Ammenmilch Krankheiten des Kindes erzeugt werden. Wenn die Milch aus der Brust nicht träufelte, so glaubten sie , dass durch Saugen an der mit zu dicker Milch erfüllten Brust das Kind Katarrh, Athemnoth und Erbrechen bekomme. Auch warnten sie vor Gemüthsbewegungen der Amme.

Bei den alten buddhistischen Indern wurden die Kinder der Fürsten von Ammen gesäugt, deren ein Kind zuweilen acht erhielt."

Das Kind in Brauch und Sitte der Völker, Dr Hermann Heinrich Ploss, II.Band, 1876