Ein sehr dunkles Kapitel in der Geschichte der Säuglingspflege ist die Leugnung des Schmerzempfindens von Neugeborenen und kleinen Babys. In Deutschland wurden Babys bis in die 1980er noch ohne Narkose operiert, da man überzeugt war, sie könnten keine Schmerzen spüren.

Dieses Thema wird bis heute weitestgehend totgeschwiegen. Weder gab es jemals eine öffentliche Diskussion darüber, noch wurde meines Wissens je darüber nachgedacht, die Opfer zu entschädigen. Das häufig angebrachte Argument, wenn jemand sich nicht an etwas erinnern kann, was in seiner frühen Kindheit geschehen ist, sei es im Nachhinein nicht so schlimm und könne heute keine Problem darstellen, wird selbst bei so einem traumatischen Erlebnis angeführt. Dabei ist in der Psychologie bekannt, dass es vorsprachliche Traumata (preverbal trauma, posttraumatic stress disorder in infants, toddlers, and preschoolers) gibt. Der Körper und das Unterbewusstsein erinnern sich. Das lässt sich nicht leugnen.

Dennoch ist es für Geschädigte nicht leicht, das Problem zu erkennen und Hilfe bei der Aufarbeitung zu bekommen. Es ist ein Tabu, nicht zuletzt weil sich niemand eingestehen will, so etwas grausames getan oder geduldet zu haben.

Wie kann man überhaupt annehmen, dass Säuglinge und insbesondere Neugeborene keinen Schmerz empfinden würden? Macht das Schreien es nicht offensichtlich?

Die Antwort liegt meiner Meinung nach im Behaviorismus, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufkam. Diesem zufolge sei es wissenschaftlich ungültig, vom äußeren Verhalten auf den inneren Zustand zu schließen. Sprich, nur weil das Baby so aussieht, als ob es Schmerzen hätte, ist das noch lange kein Beweis, das es auch tatsächlich Schmerzen hat. Das Schreien sei ein reiner Reflex. Da das Baby noch nicht über den ausgereiften Körper eines Erwachsenen verfüge, könne man auch nicht erwachsene Empfindungen auf sein Innenleben übertragen.

So gesehen war der Behaviorismus eine Katastrophe, denn eigentlich wusste man es besser. Die ganze Zeit lang!

"Das Bewußtsein fehlt noch völlig, darum hat das Kind auch noch keinerlei Schmerzempfindung bei der Geburt. Es sieht noch nicht (reagiert aber auf Lichteinfall), es hört erst nach einiger Zeit, ist aber bereits sehr empflindlich gegen Abkühlung und Überwärmung und wehrt sich schon nach kürzester Zeit bei körperlichem Mißbehagen durch Schreien."

Die Pflege deines Kindes in gesunden und in kranken Tagen, Dr. med. Hans Schlack, 1955

Wie absurd! Das Kind äußert Mißbehagen, aber kann keine Schmerzen empfinden?

Man glaubte an das "dumme Vierteljahr". In den ersten drei Monaten des Lebens würden Kinder mehr oder weniger nur dahin vegetieren und seien keine vollständigen Menschen. Alle Reaktionen kämen vom Rückenmark und seien nicht vom Gehirn gesteuert.

Wir kennen doch alle das Phänomen, dass man die Hand von der heißen Herdplatte wegzieht, bevor das Schmerzsignal das Hirn erreicht hat. Das ist eine Rückenmarksreaktion. Macht das das Verbrennen weniger schmerzhaft? Nein. 

Von den Sinnesorganen ist bereits beim Neugeborenen der Schmerz- und Tastsinn gut entwickelt.

Die Pflege des gesunden und des kranken Kindes - zugleich ein Lehrbuch der Ausbildung zur Säuglings- und Kinderkrankenschwester, Werner Catel, 1964

Vor dem Aufkommen des Behaviorismus wurde Müttern zwar schon gesagt, sie sollten das Schreien ihres Babys nicht allzu ernst nehmen, aber erst nachdem ausgeschlossen wurde, dass es keine Schmerzen oder Unbehagen durch Hunger oder nasse Windeln hatte.

Das Schreien wird ihm aber auch Sprache, Ausdrucksweise, seiner Bedürfnisse und Zustände des Gemeingefühls. Es ist Aufgabe einer aufmerksamen Mutter, dieses Schreien in seinen Ausdrücken zu beachten und sich dadurch in ein Verständniß mit ihrem Kinde zu setzen, und es wird ihr bei einiger Aufmerksamkeit bald gelingen, die verschiedenen Aeußerungen des Schreiens zu verstehen und die Bedürfnisse und Empfindungen des Kindes unterscheiden zu lernen. Sie wird erkennen, daß ihr Kind anders schreit, wenn es Hunger fühlt, wobei es mit geöffnetem Munde umhersucht, oder wenn es feucht kalt und unrein liegt, oder wenn es einen unbequemen Druck in den Windeln empfindet, oder wenn es wirkliche Schmerzen hat.

Die Mutter als Erzieherin, Dr. med. Hermann Klencke, 1875

William Preyer ging die Fragestellung nach dem Schmerzempfinden von Neugeborenen noch ganz anders an. Nämlich durch Beobachtungen und Schlussfolgerungen, wie sie später im Behaviorismus verboten waren.

Daß Neugeborene gegen schmerzerregende Eingriffe weniger empfindlich sind, als Erwachsene, ist bekannt. es wäre aber irrig, daraus auf eine Anästhesie oder  Analgesie zu schliessen. Denn abgesehen von anomalen Fällen, namentlich von scheintodten Neugeborenen, kann man eben geborenen Kindern und Thieren, sowie sie zum ersten Male still und ruhig geworden sind, sofort wieder Schreilaute und Bewegung entlocken, wenn man die Haut kneipt oder etwa den Oberschenkel schlägt.

Die Seele des Kindes, William Preyer, 1895 (4. Auflage)

Die Ratgeberautorin J. von Wedell (Pseudonym) stellt einen wichtigen Punkt heraus: Man muss das Kind kennen. Emotionale Verbundenheit ist wichtig im Erkennen der Ursache des Schreiens und Weinens.

Wenn du dein Kind viel um dich hast, so lernst du allmählich sein Schreien verstehen. Das Mutterohr hört bald Unterschiede heraus. Es empfindet, ob das Schreien kläglich ist, also von Schmerzen herrührt, ob es Hunger ausdrückt, oder ob es nur die Kraftäußerung des Kindes ist, mit dem es sich in der einzigen Sprache, die ihm zur Verfügung steht, bemerkbar machen will.

Mutter und Kind, J. von Wedell, 1898

Ist man emotional distanziert, fällt einem auch das Ertragen oder Ignorieren des Schreiens leichter. Mit Sicherheit ist auch dies ein Stück des Puzzles in der Frage, wie es zu den Misshandlungen in den Operationssälen kommen konnte. Emotionale Distanz galt zudem lange Zeit als Erziehungsziel.

Operationen ohne Narkose und Schmerzmittel sind ein Kunstfehler; egal welches Alter der Patient hat. Ich bin der Meinung, dass es eine Entschädigung für die Opfer geben sollte. Leider wird es nach so vielen Jahren schwierig bis unmöglich sein, die Täter zu belangen.

Sogar heute noch werden neugeborene Jungs in den USA ohne Narkose beschnitten. Das ist einfach fürchterlich.

In dieser Aufzeichung eines Vortrags von Dr Ryan McAllister erklärt dieser unter anderem auch, warum manche Babys ihre Beschneidung zu verschlafen scheinen (fehlinterpretierter Schockzustand!) und man sieht und hört das Video einer Beschneidung. Das Baby schreit sich die Lunge aus dem Leib.

So muss es früher auch in deutschen Krankenhäusern zugegangen sein. Bei allen Arten von Operationen. Bis man - Überraschung! - feststellte, dass sedierte und mit Schmerzmitteln versorgte Babys einen besseren Heilungsverlauf hatten.