Ein zu kurzes Zungenbändchen kann große Probleme beim Stillen verursachen. Der Begriff ist jedoch irreführend, besser wäre es, würde man es "einschränkendes Zungenbändchen" nennen. Denn genau darum geht es: die Beweglichkeit der Zunge ist eingeschränkt. Da die Zunge die Hauptarbeit beim Stillen leistet, ist leicht einzusehen, dass ihre Beweglichkeit von großer Wichtigkeit ist. Beschwerden, die ein zu kurzes Zungenbändchen hervorrufen kann, sind unter anderem: wunde Brustwarzen, extrem häufige und lange Mahlzeiten, Abrutschen von der Brust, Milchmangel und nicht zuletzt eine unzureichende Gewichtsentwicklung.

Trotzdem gibt es selbst heute noch ÄrztInnen und Hebammen, die das Zungenbändchen nicht als Problem ansehen, und noch mehr, die nicht ausreichend im Erkennen einer Ankyloglossie (so der Fachbegriff) ausgebildet sind. Zum Glück tut sich da heute viel und die Hoffnung bleibt, dass es in ein paar Jahren ein flächendeckendes Angebot an Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten geben wird.

Ein kleiner Blick in die Geschichte. Die Erzählung, dass es Hebammen gegeben haben soll, die grundsätzlich jedem Baby die "Zunge gelöst" haben sollen, zeigt zum einen, dass die Ankyloglossie altbekannt ist. Zum anderen weist es als regionaler Brauch darauf hin, dass das Problem in verschiedenen Gegenden unterschiedlich häufig autrat, und somit vermutlich erblich ist.

Großer Mißbrauch wird ferner von den Hebammen mit dem Lösen der Zunge getrieben. Es gibt allerdings Fälle, wo ein zu kurzes Zungenbändchen das Lösen der Zunge nothwendig macht. Aber diese Fälle sind weit seltener, als man meistens annimmt, und der Glaube vieler Hebammen, daß jedem Kinde die Zunge müsse gelöst werden, ist durchaus widersinnig. Sobald das Kind saugen kann, ist die Lösung der Zunge ganz überflüssig. Aber wenn das Kind auch nicht saugt, so muß man zuvor überzeugt seyn, daß die fehlerhafte Bildung des Zungenbandes die Ursache sey. Man erkennt dieses daraus, daß die Spitze der Zunge nach unten gezogen ist, tief in der untern Kinnlade liegt, und nicht in die Höhe gehoben werden kann; daß das Kind die Warzen nicht nimmt, oder, da es sich vergeblich bemüht sie an den Gaumen zu drücken, sie gleich wieder fahren läßt, und daß die Versuche welche es macht, dargereichtes Getränk hinabzuschlingen, vergeblich sind.
Wo dieses Hinderniß des Saugens also wirklich vorhanden ist, da mag die Lösung der Zunge vorgenommen werden. Am besten ist es, daß ein Wundarzt sie verrichte, denn so leicht die ganze Operation ist, so erfordert sie doch Vorsicht, um die naheliegenden Blutgefäße nicht zu verletzen. Mit den Nägeln sie zu machen, wie manchmal die Hebammen auf dem Lande zu thun pflegen, ist durchaus verwerflich, weil dadurch leicht Eiterung und Drüsenverhärtung unter der Zunge veranlaßt werden kann.

"Taschenbuch für Mütter", Adolph Henke, 1832

Was dazu geführt hat, dass das Zungenbändchen später nicht mehr als Problem anerkannt wurde, kann ich nicht sagen. Heute ist es oftmals so, dass die Symptome einfach anders erklärt werden, als mit dem Zungenbändchen. Da ja durch die strenge Reglementierung des Stillens sowieso viel (intuitives) Wissen verloren gegangen ist, gehörte das Zungenbändchen vielleicht einfach dazu.

Weitere mögliche Gründe könnten im Misstrauen gegenüber Hebammen, in dem Glauben an die Überlegenheit der Wissenschaft oder in dem Glauben an die Unfehlbarkeit der Natur liegen. Ich freue mich über weitere Ideen in den Kommentaren.

Beim Angewachsensein der Zunge reicht einfach das Zungenbändchen etwas weit nach vorn. Beschwerden macht diese kleine Mißbildung kaum jemals, und es geschieht gewöhnlich mehr auf Andringen der Angehörigen, daß der Arzt das gespannte Bändchen durch einen Scherenschnitt trennt.

"Das Buch der Mütter, Marie Susanne Kübler, 1891

Das Zungenbändchen ist in seiner Form bei verschiedenen Kindern etwas verschieden. Das "zu kurze" oder "zu weit nach vorn gewachsene" Zungenbändchen veranlaßt manche Mutter aus Angst, daß das Kind beim Saugen behindert sei, oder nicht werde sprechen lernen, das Zungenbändchen "lösen" zu lassen. Ein derartiges Vorgehen beruht auf falschen Vorstellungen. In großen Kinderkliniken haben uns langjährige Beobachtungen gelehrt, daß das Zungenbändchen mit dem Saugen oder Sprechenlernen nichts zu tun hat, daß die Gestalt und die Anwachsungsstelle des Zungenbändchens für das Kind völlig gleichgültig ist. Eine Durchschneidung des Zungenbändchens wird deshalb grundsätzlich nicht mehr vorgenommen

"Der Säugling - Seine Entwicklung, Pflege und Ernährung", Dr. Otto Köhler, 1921

Ich frage mich, was für Beobachtungen Köhler hier meint. Mir ist bekannt, dass heutzutage manche im Krankenhaus angestellte Hebammen die Problematik des zu kurzen Zungenbändchens leugnen, weil sie die Mutter-Kind-Dyade schlichtweg nicht lange genug sehen, um die Folgen mitzubekommen.

Ein stark verkürztes Zungenbändchen kann schon im Säuglingsalter zu Schwierigkeiten führen. Saugen, Trinken und Schlucken sind dann behindert und das Stillen wird unmöglich. Auch auf die Sprachentwicklung kann sich ein verkürztes Zungenbändchen negativ auswirken. Die Bildung von Lauten, die mit Hilfe der Zungenspitze entstehen (d, t, l, n, s), kann behindert sein, da die Zunge nicht weit genug reicht. (...) Wenn die Verkürzung des Zungenbändchens zu einer gestörten Beweglichkeit der Zunge mit Stillschwierigkeiten führt, sollte in jedem Fall operiert werden. Die Verwachsung sollte dann so früh wie möglich – spätestens aber im Vorschulalter - gelöst werden. Weitere Gründe für eine frühzeitige Operation können drohende Zahnfehlstellungen oder eine Mundatmung sein. Auch an spätere Probleme z.B. beim Küssen oder Anpassen einer Zahnspange bzw. Prothese sollte gedacht werden.

Bundesverband für Ambulantes Operieren e.V., www.operieren.de, 2006

Alison Hazelbaker ist eine Expertin auf dem Gebiet des zu kurzen Zungenbändchens (Tongue-tie auf Englisch). Sie hat das "Hazelbaker Assessment-Tool" für die Evaluation des Zungenbändchens entwickelt. Bei der Beurteilung der Zunge des Kindes werden fünf Kriterien zur Inspektion und sieben zur Funktion angewendet und jeweils Punkte von 0 bis zwei vergeben. Eine signifikante Ankyloglossie wird diagnostiziert, wenn der Inspektionswert ≤ 8 und der Funktionswert ≤ 11 beträgt. Behandeln kann in Deutschland: KinderärztIn, ChirurgIn, KieferchirurgIn.

Falls Du bei Deinem Kind ein zu kurzes Zungenbändchen vermutest, oder Dich einfach weiter zum Thema informieren willst, habe ich hier ein paar weiterführende Links für Dich:

Ein guter erster Anlaufpunkt ist immer eine Stillberaterin. Sie kann zwar nicht diagnostizieren oder behandeln, ist aber meist gut vernetzt und kann an geeignete Anlaufstellen weiter vermitteln.