Man sagt, das Schreien sei die Sprache der Babys. Das ist falsch. Babys geben von Geburt an vielfältige Signale, die man nur beachten und lesen lernen muss. Babys, deren Bedürfnisse zeitig wahrgenommen und erfüllt werden, schreien in der Regel nicht viel.

Junge Eltern werden aber oft belächelt, wenn sie "bei jedem Mucks gleich springen". Als wäre das Schreienlassen etwas, was man als Eltern erst mal lernen müsse. ("Können Sie das nicht?", wurde ich einmal gefragt. Nein! So etwas will ich gar nicht können.)

Um über das Schreien oder Weinen eines Kindes gelassen hinweg blicken zu können, muss man eine emotionale Distanz geschaffen haben, die der Eltern-Kind-Beziehung nicht gut tut. Wir erziehen uns selber die Empathie ab, wenn wir uns derartig von unseren Kindern distanzieren. Und wenn wir schon keine Empathie für unsere eigenen Kinder haben, wie können wir dann eine soziale und friedliche Gesellschaft sein?

Über einen Zeitraum von rund 100 Jahren wurde die emotionale Distanz zwischen Mutter und Kind immer größer. (Der Vater war bei der Erziehung in den ersten Lebensjahren eh schon außen vor.) An den Ausführungen zum Schreien der Säuglinge ist diese Entwicklung deutlich zu erkennen. Denn auch wenn schon früh das Schreien als "nicht bedenklich" eingestuft wurde, so ändert sich doch der allgemeine Tonfall und der Umgang mit dem Kind deutlich.

Biedermeier (1815-1848)

Sobald der Mensch das Licht der Welt erblickt, ist Schreien das erste, was er thut, und wir schließen nichts weiter daraus, als daß er lebt. Anstatt uns darüber Sorge zu machen, freuen wir uns darüber, und das mit Recht, denn es zeigt Lebenskraft und freie Lungen. Eben so sollten wir es aber auch in der Folge machen, und diese laute Aeußerung seines Daseyns auch für ein ganz natürliches Zeichen seiner Existenz ansehen, das weiter gar nichts Bedenkliches bedeutet.

Guter Rath an Mütter, Christoph Wilhelm Hufeland, 1830

Babys schreien nun mal. Dass das ganz normal sei, finden ja auch heute noch viele Leute.

Ist das Kind ein halbes Jahr alt, so mag man es schon bestimmter an gewisse Zeiten des Schlafes gewöhnen, was überhaupt bei allen animalischen Verrichtungen sehr heilsam ist. (...) Besonders suche man in Zeiten die Kinder zu gewöhnen, die Nacht zum Schlafe zu benutzen, wozu das beste ist, alle Äußeren Eindrücke: Licht, Geräusch u. dgl. zu entfernen, hauptsächlich aber ihren Aufforderungen zum Herausnehmen, zum Trinken u. dgl. nicht sogleich Gehör zu geben.

Guter Rath an Mütter, Christoph Wilhelm Hufeland, 1830

Besonders interessant ist hier das Wort "Aufforderung". War damit schon das Weinen gemeint oder eher Meckergeräusche? Manche Babys meckern in der Tat im Halbschlaf ein wenig und schlafen dann aber weiter. Ich verstehe dieses Zitat durchaus so, dass das Baby getröstet und gestillt wird, wenn es sich nicht von allein beruhigt. Daran ist auch aus heutiger Sicht nichts auszusetzen.

An anderer Stelle in seinem Buch liest sich das schon ganz anders.

Statt dessen aber ist nichts gewöhnlicher, als daß zärtliche Mütter und ängstliche Wartfrauen über jedes Geschrei des Kindes sich eine Menge Sorgen machen, und sogar manches thun, was dem Kinde zum großen Nachtheile gereicht. Um diese Sorge zu vermindern und jene Nachtheile zu verhüten, glaube ich etwas Verdienstliches zu thun, wenn ich hier zeige, daß das Schreien der Kinder, - versteht sich, unter gewissen Einschränkungen, - nicht allein nichts Unnatürliches, sondern sogar etwas sehr Nützliches und Heilsames ist.

Guter Rath an Mütter, Christoph Wilhelm Hufeland, 1830

Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass die Mütter und Kindermädchen (Wartfrauen) zu Hufelands Zeiten offenbar einen sehr sorgsamen Umgang mit ihren Kindern pflegten. Bevor die Theoretiker sich in die Kindererziehung einmischten, schliefen die Kinder bei ihren Müttern im Bett und verbrachten die meiste Zeit des Tages auf dem Arm oder in der Nähe von Mutter, Verwandten und Kindermädchen.

Es entspricht dem menschlichen Instinkt, auf das Schreien/Weinen von Babys sofort zu reagieren. Es ist normal, dass Schreien nicht ignorieren zu können. Manchmal sind Babys in der Tat untröstlich und ich finde es wichtig für Eltern zu wissen, dass es in Ordnung ist, wenn sie nicht immer einen Weg finden, ihr Kind zu beruhigen. Das wichtige ist, dass sie da sind. Von daher ist das Schreien an sich auch nichts schlimmes. Eltern sollen sich bitte keine Vorwürfe machen, wenn ihr Kind schreit oder sich unter Druck setzen, dass das Baby bloß nicht schreien darf.

Doch Hufeland geht viel weiter! Schreien soll nützlich und heilsam sein? Was meint er damit?

Aber auch ohne Rücksicht auf besondere Ursachen ist das Schreien, in Absicht seiner allgemeinen Wirkungen, eine für Kinder höchst wohlthätige und nothwendige Sache. Es ist fast die einzige Motion, die ein Kind in der ersten Zeit seines Lebens haben kann; es belebt den Blutumlauf und bewirkt gleichförmigere Vertheilung der Säfte, es befördert die Verdauung und die ganze Ernährung und Zunahme des Körpers; es zertheilt Stockungen und Anhäufungen um Unterleibe, und befördert alle Absonderungen, insbesondere die so wichtige Ausdünstung der Haut. Genug ich finde es vollkommen wahr, wie's auch schon ein alter Volksgrundsatz sagt: auf Kinder, die nicht schreien, ist nicht sehr zu bauen!

Guter Rath an Mütter, Christoph Wilhelm Hufeland, 1830

Zugegeben, die Babys wurden damals häufig bis zur Unbeweglichkeit in sogenannte Steckkisseneingewickelt. Da war das Schreien womöglich tatsächlich die einzige Bewegung, die ein Baby sich verschaffen konnte. Ich bezweifle jedoch stark, dass jemals ein Baby geschrien hat mit der Absicht der Bewegung.

Auch war es zu dieser Zeit längst bekannt, dass das zu enge Wickeln nicht gut für die Babys war, und die Ärzte wiesen darauf hin, wie wichtig es sei, die Kleinen auch mal nackt strampeln zu lassen.

Doch Hufeland dreht den "alten Volksgrundsatz", den er zitiert, auf den Kopf. Die Säuglingssterblichkeit war damals sehr hoch (12-50% der Kinder starben im ersten Lebensjahr). Und vermutlich hatten Babys, insbesondere Neugeborene, die zu schwach zum Schreien waren, einfach keine guten Überlebenschancen. Das heißt aber umgekehrt nicht, dass nur Kinder, die viel schreien, sich gut entwickeln würden. Genau das behauptet Hufeland jedoch.

Ich habe durchaus bemerkt, daß die Kinder, auf deren Schreien man sehr hörte, auch am meisten geschrieen haben, dahingegen die, auf die man weniger achtete, sich dasselbe bald abgewöhnten, und ich kann hier nicht umhin, die allgemeine Bemerkung, die sich mir durchaus bestätigt hat, beizufügen, daß überhaupt eine gar zu ängstliche und genaue Aufmerksamkeit auf Kinder das gewisseste Mittel ist, sie physisch und moralisch zu verkrüppeln.

Guter Rath an Mütter, Christoph Wilhelm Hufeland, 1830

Hier beobachtet Hufeland, was später noch Generationen an Kindern erleben mussten: Resignation. "Abgewöhnen" trifft es dabei recht gut. Die später von anderen Autoren verwendete Erklärung, dass die Kinder einsehen würden, dass ihr Schreien nichts bringt, setzt ein logisches Denkvermögen voraus, dass Babys einfach noch nicht haben.

Was meint Hufeland, wenn er behauptet, die Kinder würden physisch und moralisch verkrüppelt? Die physische Seite bezieht sich klar auf seine Behauptung, dass das Schreien für eine gesunde Entwicklung notwendig sei. Was das moralische angeht, müssen wir uns fragen, was denn damals als moralisch angesehen wurde. Mit Sicherheit bezieht sich Hufeland auf Werte wie Gehorsam, Unterordnung, Konformität. Es lässt sich leicht sehen, dass ein Kind, das resigniert hat, leichter zu führen ist und Fremdbestimmung leichter akzeptiert, als eines mit gesundem Selbstwertgefühl; eines, das es gewohnt ist, dass seine Bedürfnisse ernst genommen werden.

Wir sehen deutlich, dass in dieser Periode der Beginn dieser verheerenden Entwicklung zur Unterdrückung der Kinder liegt. Denn während sich Hufeland seitenweise darüber auslässt, wie normal und geradezu wichtig das Schreien sei, findet sein Kollege Henke zur gleichen Zeit viel sanftere Worte und räumt dem Schreien nicht annähernd so viel Raum ein.

Das Schreien des Kindes verkündet sogleich, daß das Kind athmet, und dieser Laut, den wir meistens, als einen Ausbruch des Schmerzes und des unangenehmen Gefühls, nicht ohne Rührung und Mitleid hören, ist die natürliche Wirkung der nun in Thätigkeit gesetzten Brustorgane, und das beste Beförderungsmittel die Hindernisse zu heben, welche den Fortgang des noch ungewohnten Athemholens hemmen können. Keine Mutter ängstige sich daher, wenn sie ihr ebengeborenes Kind schreien hört!
Taschenbuch für Mütter, Adolph Henke, 1832

Für das Neugeborenen haben wir also auch bei Henke die Aufforderung, sich keine Sorgen zu machen. Doch seine Worte sind beruhigender Natur und er scheint die Ängste der Mütter ernst zu nehmen. Er spielt das Schreien nicht herunter, wie es Hufeland tut. Auch spricht Henke der Mutter mehr Kompetenz zu.

Aufmerksamkeit, Uebung und einige Erfahrung werden sehr bald die Mutter darüber belehren, was bei dem Kinde die Ursache des Geschreies seyn könne.
Taschenbuch für Mütter, Adolph Henke, 1832

Die Mutter kennt ihr Kind am besten und Henke macht ihr an keiner Stelle ein schlechtes Gewissen, dass das Kind doch auch mal schreien müsse. Von ihm lernen wir auch, dass es üblich war, dass Babys sich tags wie nachts bei ihren Müttern befinden. Ich schließe daraus, dass mit den Babys recht bedürfnisorientiert umgegangen wird, denn Schreienlassen funktioniert am besten, wenn sich das Kind in einem anderen Zimmer befindet und man die Türe schließen kann.

In der ersten Zeit nach der Niederkunft pflegt jedes Kind denselben Aufenthalt mit der Mutter in der Wochenstube zu theilen. Mütter, welche selbst stillen, behalten meistens die Kinder, bis zur Zeit der Entwöhnung, um sich, in ihrem Wohnzimmer.
Taschenbuch für Mütter, Adolph Henke, 1832

Auch gute zwanzig Jahre später scheint sich daran nicht viel geändert zu haben, wie von Ammon uns wissen lässt.

So gut und vorteilhaft es für das Kind nun auch ist, wenn es an den beschriebenen gefahrlosen Stellen sich selbst überlassen bleibt, so lehrt doch die tägliche Erfahrung sattsam, daß nur wenige Kinder gern allein sind, daß sie im Gegentheil sich nur auf dem Arme oder an der Hand der Mutter oder der Wärterin glücklich zu fühlen scheinen.
Die ersten Mutterpflichten und die erste Kindespflege, 6. Auflage, Dr. Friedrich August von Ammon, 1854

Mittlerweile hat sich allerdings das Tragen zu einem Streitpunkt entwickelt. Rachitis ist ein häufiges Problem und durch das übliche einseitige Tragen auf einem Arm steigt das Risiko von Verkrümmungen. Das Herumtragen soll also nicht mehr zum Beruhigen benutzt werden. Das heißt aber nicht, dass nicht getröstet werden soll.

Dadurch wird aber auch das Kind verwöhnt; denn schon in den ersten Tagen und Wochen gewöhnt sich dasselbe auf eine unglaubliche Weise an den Umgang; es reicht oft schon das Sprechen auf ein schreiendes Kind hin, um es zu beruhigen, und eine streichelnde, mit den Fingern des laut gewordenen Kindes spielende Hand vermag gar oft die Unruhe desselben zu beschwichtigen, oft schon die Annäherung einer freundlichen Menschengestalt. Warum nun aber, wenn schon solche kleine Versuche hinreichen, das Schreien zu beruhigen, das Kind von seinem Lager aufheben, warum gleich zu dem Schaukeln und Umhertragen des Kindes seine Zuflucht nehmen?
Die ersten Mutterpflichten und die erste Kindespflege, 6. Auflage, Dr. Friedrich August von Ammon, 1854

Auch was die Kompetenzen der Mutter angeht, ist von Ammon nicht weit von Henke entfernt.

um kurz zu sein: Das Kind schreit, alle seine Empfindungen frei und vernehmlich zu äußern. Daher ist es Pflicht der Mütter, die Art des Schreiens genau zu erforschen, daraus auf vorhandene Bedürfnisse zu schließen und, wenn man diese aufgefunden, ihnen abzuhelfen. Die Beobachtung und Uebung thut hier viel; ich kenne Mütter, die das Schreien ihrer Kinder in all' seinen Modificationen und all' seinen verschiedenen Bedeutungen genau kennen zu lernen so geschickt waren, daß sie sich selten in der Deutung des Schreiens täuschten.
Die ersten Mutterpflichten und die erste Kindespflege, 6. Auflage, Dr. Friedrich August von Ammon, 1854

Schleichend macht sich jedoch der Einfluss von Leuten wie Hufeland bemerkbar.

Findet man die Ursache des Schreiens nicht auf, oder kann man ihm nicht abhelfen, und das Kind beharrt im Schreien, so darf man es keineswegs zu lange liebkosen, sondern muß es schreien lassen. Ein Kind schreit sich wohl kaum krank. Das Schreien ist eine Art Bewegung.
Die ersten Mutterpflichten und die erste Kindespflege, 6. Auflage, Dr. Friedrich August von Ammon, 1854

Die Grundzüge zur Verharmlosung des Schreiens und zur Verachtung des schreienden Kindes sind gelegt.

Kaiserreich 1871-1918

Wir alle kennen das Klischee der strengen Preußen. Wenn man in den Pflegeratgebern dieser Zeit liest, scheint sich das Klischee auch zu bestätigen. Dies ist die Epoche des Umbruchs in der Kindererziehung.

Nebenbemerkung:
Es wäre interessant, sich damit zu beschäftigen, wie die Kriege 1864, 1866 und 1870/71 sich möglicherweise auf die Psyche der Menschen ausgewirkt haben, und inwiefern das die Erziehung beeinflusste.

Zunächst einmal nehmen die Auführungen über die medizische Bedeutung des Schreiens ungekannte Ausmaße an. All diese Behauptungen entspringen nur der Theorie und der vorherrschenden Weltanschauung. Aus heutiger Sicht sind sie allesamt wissenschaftlich unhaltbar.

Das natürliche Schreien des Kindes - und wir werden noch sagen, woran man dieses erkennen kann - ist ein Bedürfniß für dasselbe und gereicht darum zum Nutzen seiner Lebensentwicklung. In erster Zeit ist das Schreien nichts anderes als das Bestreben, Lebenskraft zu äußern, seinem Kraft- und Daseinsgefühle einen Ausdruck durch Bewegung zu geben, wie ein älteres Kind dies durch Singen, Hüpfen und alle Arten von Muskelactionen ausdrückt. Das kleine Kind hat aber keine anderen willkürlichen Bewegungen als die der Brust-, Kehl- und Bauchmuskeln, also der Bewegungsorgane des Athmens; diese bethätigt es und sein Ausathmen wird zum Schrei.
Die Mutter, Dr. med. Hermann Klencke, 1875

Auch wird der Spruch "Schreien ist gut für die Lungen" geprägt.

Ueber das Schreien des Kindes gilt jetzt noch dasselbe, was wir oben sagten; stets ist die Ursache und die Art des Schreiens zu berücksichtigen, wohl aber zu beherzigen, daß kein Kind sich krank schreit und daß das Schreien für den Säugling eine Bewegung ist, die für dessen Lungen eine große Bedeutung hat, da sie dabei auf das höchste Maaß ausgedehnt werden.
Das Buch von der gesunden und kranken Frau, Dr. med. Ernst Kormann, 1883

Das entspricht der vorherrschenden Meinung, dass alle Organe trainiert und von außen gesteuert werden müssten. Das gilt beispielsweise auch für den Magen. Man ist der Meinung, dieser bräuchte Ruhepausen zum Verdauen, daher werden auch für Babys gewisse Abstände zwischen den Mahlzeiten gefordert.

Alle obigen Zitate stammen aus Büchern, die von Männern geschrieben sind. Im folgenden Auszug aus dem Werk der Schweizerin Marie Susanne Kübler sehen wir sämtliche Strömungen gleichberechtigt nebeneinander. Auch heute noch mache ich oft die Erfahrung, dass Widersprüche im Verhalten gegenüber Kindern gar nicht als solche wahrgenommen werden. Man ist sich einig, das Kinder freundlich behandelt werden sollten, aber ein Klaps schadet ja nicht. Man ist sich einig, dass Babys fremdeln, aber sie werden dennoch von anderen als den Eltern einfach auf den Arm genommen, denn sie müssen sich halt dran gewöhnen.

Bei Kübler sind die unerkannten Widersprüche folgende

  • Ursache finden vs. Schreien bestrafen
  • Umgang mit Menschen als Bedürfnis erkennen vs. diesen in der Nacht nicht zuzulassen
  • Schreien als Symptom vs. Schreien als Heilmittel
  • Schreien als Sprache be(tr)achten vs. Schreien als Äußerung von Eigensinn (Egoismus) auffassen und nicht (zu viel) darauf achten

Es kann nicht beides richtig sein.

Das Schreien ist die Sprache des Säuglings; er kann seine Bedürfnisse und Empfindungen auf keine andere Weise ausdrücken und so geschieht es nicht selten, daß sein Schreien ganz falsch gedeutet wird. Schreit das Kind aus Hunger, so steckt es die Finger in den Mund, saugt sogleich an einem Gegenstande, den man ihm reicht, und wird ruhig, sobald es Nahrung erhält. Oft ist auch bloß eine zu fest angezogene Leibbinde, die besonders nach eingenommener Nahrung dem Kinde lästig wird, oder eine Nadel u. dgl. die Ursache des anhaltenden Schreiens, und man thut daher gut, in solchem Falle das Kind zu entkleiden, um genau nachzusehen.
Im allgemeinen weint ein gesundes Kind nicht viel und ist bald zu beruhigen; doch sind manche Kinder mehr als andere zum Schreien geneigt. Ist man überzeugt, daß dem Kleinen nichts fehlt, daß es sich nicht verunreinigt hat, nicht zu fest gewickelt ist, hat es zur bestimmten Zeit seine Nahrung erhalten, so muß man den Mut haben, es ohne Klopfen, Schaukeln und Wiegen, und ohne daß man ihm Nahrung reicht, in seinem Bettchen schreien zu lassen. Ein gesundes Kind schreit sich nicht krank und bekommt auch durch Schreien keinen Bruch; oft kann man sogar die größten Schreihälse beruhigen, wenn man sie bequem auf ein Polster legt, sich mit ihnen unterhält, eines ihrer Händchen in die eigene Hand nimmt oder dasselbe streichelt, oder auch mit seinen Fingern spielt. Sie haben eben auch das Bedürfnis zeitweilen unterhalten zu werden.
Dieses letztere darf nun freilich zur Nachtzeit nicht geschehen, damit das Kind nicht zu munter wird. Aus dem nämlichen Grunde reiche man ihm auch zur Nachtzeit seine Bedürfnisse, ohne daß man sich durch sein Lächeln und sein einnehmendes Wesen zum Sprechen mit ihm verleiten läßt; hier muß man durchaus wortkarg sein, wenn man sich die Nachtruhe sichern will; besonders aber hüte man sich selbst bei dem ärgsten Geschrei vor dem Herumtragen und lasse mit voller Gemüthsruhe das Kind ausschreien. Rührt das Geschrei vom bloßen Eigensinn her, so darf man schon vom vierten Monat an zu einem ernsteren Mittel vorschreiten und dem Kleinen einen Klaps auf den Hinterteil geben; oft genügt es auch, ihm in strengem Tone Ruhe zu gebieten und es auf eine andere Seite zu legen.
Obwohl also die eine junge Mutter oft so sehr beunruhigenden Klagetöne des Kindes nicht immer eine Schmerzensäußerung sind, so liegt allerdings die Ursache des Kindergeschreies zuweilen in einem beschwerlichen oder krankhaften Gefühle; aber auch in dieser Beziehung halten Ärzte das Schreien oft für die beste Abhilfe. Es ist dies besonders bei Anhäufungen von Blähungen der Fall. Eine ebenso günstige Wirkung bringt das Schreien bei Schleimanhäufungen, Stockungen des Blutes in den Lungen oder bei gehemmtem Umlauf der Säfte in den äußern Teilen hervor.
Man schenke also dem Schreien des Kindes keine allzu ängstliche Aufmerksamkeit, es sei denn, daß es anhaltend und kläglich weine, wobei sich gewöhnlich krankhafte Erscheinungen bemerkbar machen, wie ein hastiges Greifen nach dem Munde, das ein Symptom von Zahnschmerzen ist. Ist das Kind heiß am Unterleibe, zieht es die Schenkel nach der Brust und stößt die Füße wieder mit Kraft von sich, schreit es dabei plötzlich auf und wird abwechselnd wieder ruhig, so deutet das auf Blähungsbeschwerden, und man merkt, daß das Kind nach jeder abgehenden Blähung sich erleichtert fühlt. Schläft das Kind nach einem nicht zu stillenden gewaltsamen Geschrei endlich ein, fährt es aber im Schlafe auf und ächzt es, so deutet dies gewöhnlich auf eine beginnende Kopfkrankheit hin. Ist sein Geschrei kurz und abgebrochen und der Atem beengt, so leidet es in der Brust, schreit es aus vollem Halse, und liegt es nach solchen Schreianfällen blaß und erschöpft da, so ist ein Leiden in den Gedärmen vorhanden. In allen diesen Fällen, oder wenn sich ein anderer unerklärlicher Ton bemerkbar macht, ziehe man den Arzt zu Rate, besonders wenn das Kind gestillt wird, da die Ursache des auffallenden Schreiens leicht auch daher rühren könnte, daß die Mutter- oder Ammenmilch dem Kinde zu wenig Nahrung bietet.
Es ist eine durch Erfahrung bestätigte Thatsache, daß die Kinder am meisten schreien, auf deren Geschrei zu viel geachtet wird, denen man stets mit Trinken oder Essen den Mund stopfen oder die man durch Herumtragen beruhigen will.
Das Buch der Mütter, Marie Susanne Kübler (Frau Scherr), 1891

Zwar erkennt Kübler menschlichen Kontakt als Bedürfnis des Säuglings an, unterstellt ihm aber zugleich auch Egoismus; eine eindeutig negative Eigenschaft. Egoismus bedeutet zwar, das eigene Ich in den Mittelpunkt zu stellen, aber es muss eine Absicht hinter dem Verhalten liegen, sonst ist es kein Egoismus. Babys haben in Wirklichkeit gar nicht die mentale Fähigkeit zwischen den eigenen und den Bedürfnissen anderer zu unterscheiden. Von dieser unterstellten Absicht ist es jedoch nicht mehr weit bis das Kind in den Augen der Erwachsenen zum Tyrannen wird.

Ab diesem Punkt, ab dieser Phase der unerkannten Widersprüche, verläuft die Entwicklung rasant. Die sanften Stimmen, wie die eines Henke, werden immer leiser. Die emotionale Distanzierung beginnt. Warum?

Die Kinder ändern sich nicht. Säuglinge weinen weiterhin und aus denselben Gründen. Man unterstellt ihnen jedoch auf einmal andere. Es wird versucht, das Schreien abzuerziehen, abzugewöhnen. Es liegt in der Natur der Sache, dass dies nur von beschränktem Erfolg gekrönt sein kann. Wiederholte Misserfolge erzeugen Frust; Frust erzeugt Ärger; Ärger erzeugt Wut; Wut erzeugt Aggression; Aggression erzeugt emotionale Distanz. Dummerweise richten sich Frust, Ärger und Wut nicht gegen die Ratgeber und ihre ach so schlauen Rationalisierungen. Nein, sie richten sich gegen die Mutter selber, die sich als unfähig empfindet, ihr Kind richtig zu erziehen, und gegen die Kinder, die einfach nicht so funktionieren wollen, wie die Theoretiker das gerne hätten.

Außerdem, wenn das Schreien eine Sprache ist, soll man das Kind doch bitte ausreden lassen, oder? Nur zuhören muss man ja nicht; soll es halt alleine vor sich hin schimpfen...

Aus demselben Grunde ist auch davon Abstand zu nehmen, das schreiende Kind durch Hin- und Hertragen in Ruhe bringen zu wollen. Der kleine Mann merkt sehr bald, daß er mit den Äußerungen seines Eigenwillens alles vermag. Wenn wir also haben feststellen können, daß eine wirkliche Ursache für das Schreien fehlt, dann lasse man den Säugling unbesorgt schreien, ja brüllen. Man befördere ihn in ein möglichst weit entferntes Zimmer und überlasse ihn dort seinem Schicksal und wenn es Tage dauert, bis er sich beruhigt. Er wird bald einsehen, daß er nichts erreicht und sich und den Eltern dann nicht mehr die nötige Ruhe vergällen.
In dieser Beziehung hat man also schon einen recht großen erzieherischen Einfluß auf den Säugling, indem wir schon recht zeitig ihn lehren können, zu gehorchen und seinen Willen besserer Einsicht unterzuordnen.

Der Säugling - seine Ernährung und seine Pflege, Dr. Walther Kaupe, 1907

Da ist es, das manipulative Kind! Jetzt treten wir in die Phase ein, in der die sanften Stimmen vollständig verstummen.

Nichts ist verkehrter, als bei jedem Schreien des Kindes die Brust zu geben. Die Mutter muß den Mut haben, ihr Kind auch schreien zu hören. Schreien ist eine ganz gute Lungengymnastik und der kleine Weltbürger gewöhnt sich das unnötige Schreien schnell ab, wenn er merkt, daß man es nicht allzu tragisch nimmt. Eine ruhige, besonnene Mutter wird dem Kinde das unnötige Schreien bald abgewöhnen. Im übrigen ist das Schreien das heilige Recht des Kindes. Es ist ja dies die einzige Art, seiner Empfindung Ausdruck zu geben. Schreit also das Kind anhaltend, dann sehe man nach, ob irgend eine Ursache vorliegt - ob das Kind sich schmutzig gemacht hat, ob es unbequem liegt, ob irgend etwas seinen Körper belästigt, ob eine Nadel in den Windeln liegt usw. Ist eine greifbare Ursache nicht vorhanden, dann lasse man den grimmigen Ajax sich ruhig etwas austoben.

A-B-C für junge Mütter, Dr. Ziegelroth, 1914

Weimarer Rebublik 1918-1933 (Goldene Zwanziger)

Man könnte meinen, sachliche Nüchternheit sei die Errungenschaft dieser Zeit. Kein Mitgefühl, kein freundliches Wort für Mutter oder Kind.

Die Stimmung des gesunden Säuglings ist im allgemeinen behaglich. Je jünger er ist, desto mehr schläft er, so daß in den ersten Lebensmonaten die Pausen zwischen den Mahlzeiten meist durch seinen Schlaf ausgefüllt werden. Schreit er sehr häufig und anhaltend, so hat er entweder Hunger, oder fühlt sich aus irgend einem oft nicht leicht ersichtlichen äußeren Anlaß unbehaglich. Anders ist das Verhalten von an und für sich gesunden Kindern mit besonders erregbarem Nervensystem, die man gewöhnlich als nervös bezeichnet. Sie sind meist leicht aus ihrer gleichmäßig heiteren Stimmung zu bringen, sind schreckhaft und schlafen nicht lange und fest. Bei guter regelmäßiger Gewichtszunahme, gutem Appetit und tadellosen Ausleerungen schreien sie oft stundenlang am Tage oder nachts.
Ausgesprochene Fälle dieser Art werden deshalb geradezu als Schreikinder bezeichnet. Ehe man sich jedoch zu dieser Auffassung entschließen darf, muß durch wiederholte sorgfältige ärztliche Untersuchung jede körperliche Erkrankung ausgeschlossen werden, da das gleiche Verhalten mehrere Tage hindurch unter Umständen eine schwere Krankheit einleiten kann.

Der Säugling - Seine Entwicklung, Pflege und Ernährung, Dr. Otto Köhler, 1921

Zumindest lässt sich noch erkennen, dass das natürliche Verhalten von Mutter und Kind noch nicht in Vergessenheit geraten ist.

Schreit der gesunde Säugling, so geschieht dies mit kräftiger Stimme. Durch Ablenkung seiner Aufmerksamkeit, wenn die Mutter an sein Bettchen tritt und mit ihm spricht oder mindestens durch Aufnahmen und Herumtragen läßt er sich schnell beruhigen.

Der Säugling - Seine Entwicklung, Pflege und Ernährung, Dr. Otto Köhler, 1921

Das heißt aber nicht, dass man diesem natürlichen Verhalten einfach nachgeben darf. Oh, nein! Auch äußert das Kind mit seinem Schreien keine Bedürfnisse mehr, sondern lediglich Wünsche.

Um den Säugling rechtzeitig an Ordnung zu gewöhnen, muß in der Pflege eine strenge Regelmäßigkeit beobachtet werden. Diese Forderung betrifft vor allem die Mahlzeiten, die stets zur selben Zeit gereicht werden sollen. Das Maß der Ernährung, das Aufnehmen auf den Arm usf. sind Maßnahmen, die von der Mutter oder Pflegerin bestimmt werden. Das Kind hat sich mit seinen Wünschen unterzuordnen. Es bietet oft Schwierigkeiten, eine Mutter von dieser Grundregel zu überzeugen. Selbst ein junger Säugling empfindet sehr bald, ob er seinen Willen durchsetzen kann oder nicht.

Der Säugling - Seine Entwicklung, Pflege und Ernährung, Dr. Otto Köhler, 1921

Jetzt schreiben wir das Jahr 1921 und noch immer gibt es Mütter, die sich nicht an die Regeln halten! Das ist frustrierend. Und wir haben ja gesehen, wohin Frust führt!

In der Tat scheint sich auch unter den Autoren der Ratgeber Frust, Wut und Aggression breit zu machen. Zu der Sachlichkeit kommt nun die Strenge.

Nationalsozialismus 1933-1945

Nun ist nicht mehr die Mutter diejenige, die ihr Kind am besten kennt, sondern sie muss sich von Experten sagen lassen, was sie tun soll. Das Kind hat sich den Eltern unter zu ordnen und die Eltern haben sich den Experten unter zu ordnen.

Die Aufgabe, ein Kind zu erziehen, wird von den Eltern nur selten vollkommen gelöst. Und zwar in erster Linie deswegen, weil Vater und Mutter naturgemäß ihrem eigenen Fleisch und Blut gegenüber nicht die für eine Erziehungsaufgabe nötige objektive Einstellung besitzen. Ihnen fehlt in vielen Fällen der klare Blick für die Schwächen, oft aber auch für die Vorzüge ihrer Kinder. Weiterhin wird durch den Mangel an Distanz, der sich fast immer als Folge ständigen Beisammenseins zwischen den einzelnen Familienmitgliedern entwickelt, die Autorität der Eltern gewöhnlich derart geschwächt, daß ihre Anordnungen einfach überhört und nicht befolgt werden.

Kinder - Glück und Sorge der Mutter, Dr. med. Luise von Seht, 1939

Die Mutter verfügt zwar über gewisse Kompetenzen in der Ausführung ihrer Rolle (und es ist eine Rolle; sie soll keine authentische Person sein). Was aber richtig und was falsch ist, muss man ihr erst beibringen.

Doch wird [die Mutter] bei einiger Übung und Erfahrung aus der Art des Schreiens bald heraushören können, ob es berechtigt ist oder nur der Wunsch nach Unterhaltung und Abwechslung dahinter steckt.

Kinder - Glück und Sorge der Mutter, Dr. med. Luise von Seht, 1939

Natürlich will das Kind nur manipulieren und jegliche Freude, die es zeigt, kann nur daher rühren, dass sein Plan funktioniert hat.

Das Hinzutreten der besorgten Mutter oder einer anderen Pflegeperson löst dann sofort ein befriedigtes Lächeln aus. Der beste Beweis dafür, daß er es nur darauf abgesehen hatte, seinen kleinen Willen durchzusetzen und unterhalten zu werden. Aus diesem Benehmen geht deutlich hervor, daß sich die Mutter nicht mehr als nötig mit ihrem Kleinsten beschäftigen und keine allzugroße Willfährigkeit seinen Wünschen gegenüber aufkommen lassen soll. Und wenn es ihr auch manchmal schwer fallen sollte, dem oft recht gebieterischen Geschrei des kleinen Tyrannen nicht nachzugeben, wird sie sich bald davon überzeugen können, daß ihr Verhalten richtig war. Das Kind sieht schließlich das Erfolglose seiner Bemühungen ein, wird ruhig und gibt sich dann auch zufrieden, ohne daß man ihm Gesellschaft leistet.

Kinder - Glück und Sorge der Mutter, Dr. med. Luise von Seht, 1939

Jegliche Empathie ist verschwunden. Vernachlässigung wird ärztlich verordnet. Das Kind ist zum Feind mutiert, der besiegt werden muss. Hierarchie ist im Nationalsozialismus die Kraft, die alles möglich macht.

Bemerkenswert finde ich auch die Änderungen in den Titeln der Bücher. Der Fokus lag im 19.Jahrhundert auf der Mutter. Ihr sollte bei der Aufzucht der Kinder geholfen werden. Nun liegt der Fokus auf dem Kind und darauf, was für eine Belastung es für die Mutter sein kann.

Wer ein ruhiges und braves Kind haben will, muß dasselbe vom ersten Lebenstage an erziehen. Wer diesen Rat nicht befolgt, wird sich seinen Liebling zum Tyrannen machen, der während einer Krankheit die Mutter zur Verzweiflung bringt. Und es verlangt diese Erziehung in den ersten Monaten nichts Besonderes; wer sein Kind ruhig im Bettchen sich selbst überläßt, es nur zur Mahlzeit, die nicht bei jedem Schrei (es ist ein Unfug, jedes Schreien des Säuglings als Hunger und als Verlangen nach Nahrung zu deuten), sondern erst nach der entsprechenden Pause gereicht wird, oder zum Trockenlegen herausnimmt, das viele Sprechen mit demselben, das beliebte ständige Herumtragen, Wiegen, Fahren, grelle Geräusche und Lärm vermeidet, es weder zur Nahrungsaufnahme noch aus sonst einem Grunde weckt, tut das Richtige. Ein einmal verzogenes Kind ist schwer zurechtzubringen.

Das Kind - Der Mutter Glück, der Mutter Sorge, Karl Planner-Wildinghof, 1943

Mein rechter, rechter Platz ist frei; ich wünsch' mir einen Henke herbei!