"Nicht selten tritt der Fall ein, daß die kleinen Geschöpfe uns nicht zu Willen leben und durchaus nicht einschlafen wollen, wenn wir es gern hätten." So schrieb Marie Susanne Kübler 1891. Aber das heißt ja nicht, dass nicht versucht wurde (und wird), das Kind trotzdem zum Schlafen zu bewegen.

"Die unschädlichsten von allen einschläfernden Mitteln, welche man bei Kindern anwendet, möchten das in den Schlaf singen, und eine sanfte schaukelnde Bewegung (in einer Wiege, oder auf andere Weise) seyn. Nur muß beides um die Kinder nicht zu verwöhnen, nicht länger als im ersten Jahre angewendet werden."
Taschenbuch für Mütter, Adolph Henke, 1832

Zu Henkes Zeiten waren Wiegen sehr umstritten, und das nicht nur wegen des Verwöhnens.

"Ueber die Wiegen sey es erlaubt noch ein Paar Worte insbesondere zu sagen. Die neuern Erzieher, und mit ihnen manche Aerzte, haben die Wiegen als nachtheilig für die Gesundheit der Kinder fast in den Bann gethan. Man fürchtet nämlich, daß die schwankende Bewegung der Wiege dem Kinde schädlich werden könne. Betäubung, Schwindel, Erschütterung des Gehirns, hat man gesagt, seyen unvermeidliche Folgen, und man gibt nicht undeutlich zu verstehen, daß die Kinder dadurch dumm gemacht werden könnten.
Allein dieser Glaube läßt sich theils mit Gründen, theils durch die Erfahrung widerlegen. Sehr ausgezeichnete Aerzte haben daher die Vertheidigung des uralten Gebrauches der Wiegen, welche schon die Römer kannten, übernommen. Die unangenehme Empfindung welche Erwachsne von einer schaukelnden Bewegung in horizontaler Lage bekommen, findet bei dem Kinde nicht statt, das noch an die aufrechte Stellung nicht gewöhnt, und noch nicht dazu fähig ist. Im Gegentheil scheint sie dem Kinde, das vor seiner Geburt einer ähnlichen schaukelnden Bewegung im Mutterleibe ausgesetzt war, ganz behaglich zu seyn.
Endlich lehrt die Erfahrung, daß tausend und aber tausend Kinder ohne Nachtheil gewiegt wurden. Man darf mithin das Wiegen wenn es eine mäßig schaukelnde Bewegung bleibt, und nicht bei vollem Magen des Kindes unternommen wird, wohl für einen unschädlichen Gebrauch erklären."
Taschenbuch für Mütter, Adolph Henke, 1832

Trotz dieser versöhnlichen Worte Henkes wurde der Streit um die Wiege noch lange fortgeführt. Hier wettert Sanitätsrat Dr. med. Kormann dagegen an.

"Nie aber ist der Gebrauch der sogenannten Wiegen zu empfehlen, d.h. Bettchen, welche eine Axe tragen, die sich in einem Gestelle dreht, oder deren Füße auf Kufen stehen, mittels welcher die Wiege zur Beruhigung oder Einschläferung des Kindes in Bewegung gesetzt wird. Von Anfang an weiß kein Kind etwas vom Schaukeln, Wiegen oder Eintragen! Es schläft ruhig ein. Warum später nicht mehr? Weil es die Umgebung verwöhnte, sich und dem Kinde zur Qual; denn nun will es den ganzen Tag getragen werden oder bis zum jedesmaligen Einschlafen gewiegt werden! Es ist aber weder das Wiegen noch das Herumtragen ein Beruhigungsmittel. Schreit aus diesem Grunde - wir zählten diese Art des Schreiens zur Ungezogenheit in Folge von Verzogensein! - so gewöhne man das Kind daran, daß man auf dieser Welt seinen Willen nicht immer durchsetzen kann. Man lasse es schreien, nachdem man sich überzeugt, daß eine andere Ursache dazu nicht vorliegen kann. Es wird nach 3 Tagen sich wieder an das Ruhigliegen gewöhnt haben. Diejenigen aber meiner liebenswürdigen Leserinnen, welche ihr Kind lieb haben und sich selbst dieses Opfer ersparen wollen, mögen den Wiegenmechanismus sofort von Anfang an außer Thätigkeit lassen und nur ein Bettchen als Ruheplatz ihres Lieblings benutzen!"
Das Buch von der gesunden und kranken Frau, Dr. med. Ernst Kormann, 1883

Dank solcher Reden durch Autoritätspersonen und der Erfindung des Stubenwagens, geriet die Wiege aus der Mode. 1922 war sie kaum noch in Gebrauch.

"Die alten Zeiten der Wiege sind für immer vorbei. Nur selten noch habe ich in meiner poliklinischen Tätigkeit eine Wiege gesehen, die dann durch einen langen Bindfaden mit Mutters Bett verbunden, von dieser in dauernder Bewegung gehalten wurde. Und wenn die Mutter schlief, dann sorgte Großvater oder Großmutter dafür, daß die Schaukelei kein Ende nahm. Heute gebrauchen wir ein so unnatürliches Einschläferungs- und Beruhigungsmittel, wie die Wiege, nicht mehr, heute wissen wir, daß wir durch Ordnung und Sauberkeit, durch verständige Ernährung und richtige Erziehung auch ohne dieses Hilfmittel auskommen können. Vielfach dient der Kinderwagen gleichzeitig als Bettchen. Das ist nicht gut. So kann die kleine Lagerstatt nur allzu selten gelüftet werden. Ein einfacher, innen mit hellem, waschbaren Stoff ausgeschlagener Kinderkorb ist da, wo die Mittel fehlen, ein eisernes Kinderbettchen anzuschaffen, völlig ausreichend."
Die Frau - was sie von Körper und Kind wissen muß, Dr. Wilhelm Liepmann, 1922

Zu dieser Zeit hatten wir noch nicht erkannt, dass Menschenkinder Traglinge sind. Sonst könnte Liepmann das Wiegen auch nicht als unnatürlich bezeichnen.

Doch es gab noch andere weit verbreitete Mittel, den Schlaf herbei zu führen. Häufig wurde das Kitzeln erwähnt. In einer prüden Gesellschaft, die Zärtlichkeiten skeptisch gegenüber stand, wurde aber auch das nicht gern gesehen.

"Das Streicheln und Kitzeln auf dem Bauche oder Rücken des Kindes, ein Mittel, welches von den Ammen und Mägden als sehr unschädlich betrachtet, und häufig angewendet wird, ist ebenfalls verwerflich, da es zur frühern Aufregung der Sinnlichkeit beiträgt."
Taschenbuch für Mütter, Adolph Henke, 1832

Wir erkennen hieran auch einen intuitiveren Umgang mit Kindern in den unteren Gesellschaftsschichten im Vergleich zu einem verkopfteren (und nicht selten distanzierteren) Umgang in den oberen Schichten. Aus Sicht der Damen konnte das Verhalten ihrer Angestellten allerdings nur von deren geringer Bildung oder ihrer Ungeduld kommen. So schreibt es auch die eingangs erwähnte Frau Kübler. Sie wirft den Angestellten noch viel schlimmeres vor.

"Nicht selten tritt der Fall ein, daß die kleinen Geschöpfe uns nicht zu Willen leben und durchaus nicht einschlafen wollen, wenn wir es gern hätten. Helfen hier die einzigen erlaubten Einschläferungsmittel, wie gelindes Wiegen oder ein langsames Hin- und Herfahren des Korbwagens nicht, so nehme man dennoch nicht Zuflucht zu den oft so verderblichen Mitteln, die ungeduldige Ammen oder Kindermädchen nur zu gern anwenden, um unruhige Kinder zum Schlafen zu bringen. Zu diesen Mitteln gehören: das heftige Schaukeln oder Wiegen, das Kitzeln an verschiedenen Stellen des Leibes, das Waschen des Kopfes mit Branntwein oder das Einflößen kleiner Gaben von diesem oder ähnlichen geistigen Getränken oder einer mit Mohnköpfen abgekochten Milch, die Verabreichung von Schlafpulvern, welche nicht selten Opiate oder andere betäubende, gehirnreizende Ingridienzien enthalten. Nichts ist schädlicher als solche und ähnliche Schlafmittel."
Das Buch der Mütter, Marie Susanne Kübler, 1891

Auch Henke erwähnte innerlich und äußerlich angewendete betäubende Arzneimittel.

"Manches Kind wurde durch diese Mittel, welche die Kinderwärterinnen von gewissenlosen oder nachlässigen Apothekern sich zu verschaffen wußten, ohne Wissen der Aeltern wahrhaft vergiftet."
Taschenbuch für Mütter, Adolph Henke, 1832

Wie verbreitet diese Mittel wirklich waren, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Leider sorgte die Industrialisierung dafür, dass sie häufig genutzt wurden. Denn in den Familien der Arbeiter'innenmussten die kleinen Kinder nicht selten tagsüber allein gelassen werden, da es keine Betreuung gab. So wurden diese schädlichen Mittel bis in die 1920er verwendet.

"Einschläferungsmittel sind gänzlich zu verwerfen. Mohnsaft, Schnaps u. dgl. zu verabreichen ist ein Verbrechen am Kind. Beruhigung tritt am schnellsten am offenen Fenster oder im gut gelüfteten Zimmer ein."
Merkbüchlein zur Mutter- und Säuglingspflege, Dr. med. Martin Vogel, 1920

Doch während die meisten Ärzte jegliche Gaben von einschläfernden Mitteln durch die Eltern oder Betreuer'innen des Kindes verurteilten, so fand Dr. Walter Birk, Privatdozent an der Universität Kiel, die Verwendung von Schlafmitteln in der Klinik, damit das Personal nicht durch Babygeschrei genervt wurde, nicht nur akzeptabel, sondern empfehlenswerte Praxis, die wunderbar geeignet sei, ein Baby an größere Abstände zwischen den Mahlzeiten zu gewöhnen.

"In den Fällen, in denen es sich offensichtlich um eine Überernährung mit Milch handelt, kommt man oft schon zum Ziel, wenn man die Nahrungsmengen auf das physiologische Maß einschränkt. Das ist allerdings oft leichter gesagt als getan. Denn die an sich schon zur Unruhe geneigten Kinder protestieren gegen jede brüske Reduktion ihrer Nahrung ganz energisch mit unaufhörlichem Geschrei.
Zunächst muß man immer erst zu erreichen suchen, die Zahl der Mahlzeiten durch Innehaltung längerer Pausen möglichst auf 5 herabzusetzen. Bis die Kinder sich daran gewöhnt haben, läßt man ihnen in jedes Trinken 1 Teelöffel Chloralhydrat (3.0 auf 100,0 Wasser + 1 Tablette Saccharin) tun, wodurch bei den meisten ein etwa 3stündiger Schlaf herbeigeführt wird. Die Besserung ist meist ganz prompt, so daß nach 2 — 3 Wochen das Chloralhydrat überflüssig wird. Schlafen die Kinder nach 1 Teelöffel nicht ein, so gibt man nach 10 Minuten einen zweiten.
Die Unsitte der Nachtmahlzeiten bekämpft man am besten durch ein spät abends, vor der letzten Flasche verabfolgtes, möglichst lang ausgedehntes warmes Bad. Melden sich die Kinder trotzdem, so erhalten sie keine Nahrung, sondern nur Fencheltee. Lehnen die Eltern den Gebrauch eines Medikamentes ab, so bleibt man zunächst bei den häufigen, z. B. 2stündigen Mahlzeiten, läßt aber abwechselnd eine Flasche Milch, dann eine Flasche mit Tee verabfolgen, wodurch die Nahrungsmenge auf die Hälfte reduziert wird."
Leitfaden der Säuglingskrankheiten für Studierende und Ärzte, Dr. Walter Birk, 1914

Wir sehen hier, dass es nicht selten vor kam, dass die Eltern die Schlafmittel ablehnten. Es ist davon auszugehen, dass die breite Bevölkerung sich dessen bewusst war, dass Schlafmittel für Babys und kleine Kinder schädlich sind. Wenn also frühe Ratgeber es für nötig hielten, diese Schädlichkeit zu betonen, dann eher wegen vereinzelter Fälle, als wegen einer weiten Verbreitung. Manche Eltern oder Betreuer'innen mögen diese Mittel aus Unwissenheit oder Gleichgültigkeit gegeben haben. Doch meist war es aus Not.

Wiegen, Tragen, Singen, Streicheln und Kitzeln waren die Mittel der Wahl. Altbewährt und noch heute gern genutzt.