Dieser Artikel erschien zuerst in der Deutschen Hebammen Zeitschrift (DHZ) 3/2010

Heute sind sich ExpertInnen einig, was für ein gelungenes Bonding wichtig ist: die erste Zeit unmittelbar nach der Geburt. Und wenn ein Kontakt zwischen Mutter und Kind dann nicht möglich ist, sei es durch Kaiserschnitt, Frühgeburt, Klinikroutine oder sonstiges, so ist es umso notwendiger, dass Mutter und Kind ein inniges gemeinsames Wochenbett verbringen.

"Band der Liebe und Zuneigung"

Stellen wir uns folgendes vor: Das Baby schläft bei der Mutter im Zimmer, vielleicht sogar in ihrem Bett, und wird nach Bedarf gestillt. Die gesamte Wochenbettzeit verbringen Mutter und Kind zusammen, bei Stillkindern oft sogar die gesamte Stillzeit. Was klingt wie aus einem aktuellen Ratgeber entnommen, beschrieb Adolph Henke in seinem "Taschenbuch für Mütter" im Jahr 1832 (Henke 1832). Seines Zeichens war er Professor der Medizin in Erlangen und königlich Bayerischer Hofrat. Henke wies ebenfalls darauf hin, dass durch das Stillen ein "Band der Liebe und Zuneigung" zwischen Mutter und Kind "auf das innigste geknüpft" werde, das sich auch im späteren Leben noch positiv auf die Beziehung der beiden auswirken würde. Demnach hatte man schon zur Zeit des Biedermeier, als die erste große Welle an Erziehungsratgebern erschien, eine Ahnung von dem, was wir heute Bonding nennen. Zu dieser Zeit galt die Kindheit als schützenswert. Das Kind sollte Kind bleiben und nicht zu früh mit der Welt der Erwachsenen und deren Sorgen in Berührung kommen. Der Mensch galt als von Geburt an gut und würde geformt durch seine Umwelt.

Im Laufe der Jahre wandelten sich die Empfehlungen für das Wochenbett. Zunächst verschwand das Stillen nach Bedarf. 1854 schrieb Friedrich August von Ammon (1799-1861) in seinem Standardwerk "Die ersten Mutterpflichten und die erste Kindespflege", dass das Baby möglichst schon in den ersten Tagen an einen Drei-bis-Vier-Stunden-Rhythmus gewöhnt werden solle (von Ammon 1854). Als Begründung gab er an, dass die Muttermilch nur dann ihre "gehörigen gesunden Eigenschaften" erhalte, wenn sie eine Zeit lang in der Brust verweile. Zumindest aber darf, nein, soll das Kind stets mit der Mutter zusammen sein. "Wir verließen den im ersten Schlummer liegenden Säugling an der Seite der Mutter, denn dort findet derselbe in der ersten Zeit seine beste Stelle; er befindet sich behaglich in der Nähe der Mutter, der die Natur nicht umsonst eine erhöhte Wärme und reichlichen Schweiß gegeben hat. Es ist dem Neugeborenen in dieser Brutwärme wohl und dort schlummert er sanft und ungestört, bis das Nahrungsbedürfniß ihn weckt." (von Ammon 1854). Über das gemeinsame Schlafen in einem Bett schrieb er, dass es mit Vorsicht geschehen müsse, "wenn auch wohl noch nie eine Mutter ihr Kind im Schlafe erdrückt hat." (von Ammon 1854). Von Ammon war tätig als Professor an der chirurgisch-medizinischen Akademie und Direktor der Poliklinik in Dresden, sowie als Leibarzt des Königs von Sachsen. Mit seinem Erziehungsratgeber, welcher von 1827 bis 1921 42-mal aufgelegt wurde, erreichte er alle Bevölkerungsschichten.

Die "Erziehung" hält Einzug

Nur eine Generation später, zu Beginn des Kaiserreichs (1871-1918), ist es mit dem gemeinsamen Schlafen vorbei. "Die frühere Gewohnheit, daß die Mutter ihr Kind bei sich im Bette behält und bis zum zweiten Jahre, oft noch länger, neben sich schlafen läßt, ist so ungesund, der leichten Erstickung und Erdrückung wegen so gefährlich und der unvermeidlichen Unreinlichkeit wegen so widerlich und hat schon so viele Kinder um Kraft und Leben gebracht, daß diese Unsitte in den civilisierteren Familien ziemlich ausgetilgt ist und wohl nur noch in den Häusern der Armuth oder Rohheit vorkommt." So schrieb der Arzt und populärwissenschaftliche Schriftsteller Hermann Klencke aus Hannover in seinem Werk "Die Mutter als Erzieherin ihrer Töchter und Söhne zur physischen und sittlichen Gesundheit vom ersten Kindesalter bis zur Reife"(Klencke 1875).

Bis dahin entsprangen die Empfehlungen rund ums Wochenbett noch rein gesundheitlichen Überlegungen und Erkenntnissen. Doch nach und nach hielt die Erziehung Einzug in die Wochenstube. 1882 zählte man neben dem Hunger fünf Gründe, aus denen Babys schreien: Durst, Nässe, Fremdkörper, Schmerz und Ungezogenheit, so "Sanitätsrath" Dr. med. Ernst Kormann, Spezialarzt für Geburtshilfe, Frauen- und Kinderkrankheiten in Coburg und Mitglied der Gesellschaft für Heilkunde in Berlin in seiner Schrift "Das Buch von der gesunden und kranken Frau in den ersten Stadien des ehelichen Lebens nebst Anleitung zur Pflege des Neugeborenen und des Säuglings und zur Erziehung des Kindes bis zum Ende seines ersten Lebensjahres und einem Anhange über Säuglingskrankheiten" (Kormann 1883). Es wurde kein Unterschied mehr gemacht zwischen der Erziehung des Neugeborenen und der des Säuglings. Das führte dazu, dass in den Ratgebern der folgenden Jahre auf das Wochenbett nur noch aus physiologischer und pflegerischer Sicht eingegangen wurde. Mutter und Kind wurden dabei getrennt betrachtet, da das Zusammenspiel zwischen ihnen im Wochenbett keine gesonderte Stellung gegenüber der Säuglingszeit mehr einnahm. Es finden sich keine direkten Hinweise darauf, wie die Rahmenbedingungen für das Bonding im Wochenbett aussahen. Häufig gab es Kapitel oder Abschnitte über den Schlafplatz des Kindes oder die Kinderstube. Jedoch wurde nicht erwähnt, ab welchem Alter sich das Kind dort aufhält. Man muss davon ausgehen, dass dies schon sehr früh, nach dem Frühwochenbett - wenn nicht gar ab der Geburt - der Fall war.

Vordergründige Gesundheitsaspekte

In den 1930er Jahren lernten die Kinderkrankenschwestern, dass ein Neugeborenes niemals ins Bett der Mutter gelegt werden dürfe. Begründet wurde dies mit der Infektionsgefahr. Mit dem wachsenden Wissen über die Vermeidbarkeit von Krankheiten war eine regelrechte Pflicht zur Gesundheit entstanden. Krankheiten waren kein Schicksal mehr, sondern galten als Schwäche und persönliches Versagen. "Reinlichkeit" war daher das oberste Gebot. Die Wöchnerin sei als "Keimträgerin ersten Ranges" zu betrachten (Birk & Mayer 1930). Mutter und Kind wurden voneinander getrennt. Das Kind wurde der Mutter zu festen Zeiten gebracht und wieder abgeholt. Die Erziehung des Kindes begann am ersten Lebenstag "mit der Gewöhnung an die Zeitordnung. Innehalten der Nähr- und Pflegeordnung erzieht zur Beherrschung des Willens. Innehalten der Nahrungsmengen erzieht zur Mäßigkeit." (Niemes 1933). Das Kind wurde von Anfang an reglementiert und hatte sich dem Willen der Erwachsenen unterzuordnen.

Diese Sichtweise war typisch für den Nationalsozialismus. Durch die in der NS-Zeit ausgebildeten Fachkräfte wurde sie noch bis in die 1980er Jahre verbreitet. Gegen die Folgen kämpfen wir stetig an. Die latente Kinderfeindlichkeit, deren Devise es ist, das Kind in seine Grenzen zu weisen, hat ihren Ursprung genau hier, ebenso wie die Angst, das Kind zum Tyrannen zu machen, wenn man auf seine Bedürfnisse hört.

Dass es im Nationalsozialismus bei den Empfehlungen zur Trennung von Mutter und Kind nur vordergründig um die Gesundheit ging, kann man sehr eindrucksvoll bei der Soziologin Sigrid Chamberlain nachlesen in ihrem Werk "Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" (Chamberlain 2003). Vielmehr wollte man gezielt die Mutter-Kind-Bindung untergraben, um sich so gefügige Mitläufer heranzuziehen. Um den Einfluss des Bondings wusste man bereits sehr gut Bescheid. Die Angst der Mütter, die Bindung würde zu eng und das Kind niemals selbstständig werden, wurde so nachhaltig geschürt, dass sie noch heute weit verbreitet ist.

Heutzutage braucht man Studien, um zu beweisen, dass Mütter instinktiv für ein gutes Bonding sorgen, wenn man sie lässt, und wie wichtig dieses Bonding ist. Mit diesen Studien kämpfen wir gegen eingefahrene Ansichten und Routinen, die ihren Ursprung in der menschenfeindlichen Grundeinstellung des Nationalsozialismus haben.

Rat und Realität

Es gab schon immer einen Unterschied zwischen dem, was empfohlen und dem, was getan wurde. Auch das lesen wir zwischen den Zeilen der Erziehungsratgeber. So beispielsweise bei von Ammon: "Beinahe alle Mütter (...), mit wenigen Ausnahmen, begehen den sehr großen (...) Fehler, daß sie das Kind gleich von den ersten Tagen seines Lebens an bei dem geringsten Laut, den es ausstößt, oder bei der geringsten Unruhe, welche es zeigt, von seinem Lager aufheben, und durch Schaukeln und Umhertragen auf den Armen beruhigen zu müssen glauben." (von Ammon 1854) Glücklicherweise gab und gibt es zu jeder Zeit Mütter, die entgegen den allgemeinen Empfehlungen auf ihr Herz, auf ihren Instinkt hören und das Richtige tun. Nicht zuletzt diesen Frauen ist es zu verdanken, dass Studien über das Bonding überhaupt erstellt werden und dass das Wochenbett heute vielerorts wieder ähnlich aussieht wie 1832.