Es war einmal eine junge Bauerstochter namens Amalia Wild. Sie war das dritte von sieben Kindern. Ihr Vater war gestorben als sie acht Jahre alt war und so lebte sie mit ihrer Mutter, ihrem Stiefvater und den Geschwistern auf dem elterlichen Hof, dem Hubergut.
Eines Tages traf Amalia den feschen Dienstknecht Albert Hautz und verliebte sich unsterblich in ihn. Da ein Dienstknecht einer Bauerstochter aber nicht würdig war, so durften die beiden nicht heiraten. Ihre Liebe blieb dennoch nicht ohne Folgen, denn Amalia gebar einen Sohn, Alois.
Ihre Familie war erbost über diese uneheliche Geburt und befahl, dass der kleine Alois im Stall schlafen musste. Doch der Junge erweichte schon bald das Herz seines Großvaters und so brachte dieser ihn ins Haus, in den Schoß der Familie.
Amalia jedoch vergaß Albert nie. Sie heiratete zwei Mal, aber hatte keine weiteren Kinder. Noch als Großmutter als sie eines Tages mit ihrer Enkeltochter unterwegs war und zufällig Albert traf, raunte sie ihrer Enkelin zu: „Ist das nicht ein fescher Mann?“
Alois war mein Opa. Die Enkelin in der Geschichte ist meine Mutter.
Natürlich kann man sagen, dass damals andere Zeiten herrschten, und uneheliche Schwangerschaften als Schande angesehen wurden. Doch damit ist die Ablehnung des neugeborenen Kindes nicht erklärt, wenn man die weitere Familiengeschichte kennt.
Bei meinen Nachforschungen bin ich darauf gestoßen, dass schon Amalias älteste Tante dreiuneheliche Kinder gehabt hat. Ob die anderen Tanten und Onkel ebenfalls uneheliche Kinder hatten, kann ich derzeit nicht sagen, da die entsprechenden Kirchenbücher aus Datenschutzgründen noch nicht freigegeben sind. Aber! Amalias Oma war selber ein uneheliches Kind und schwanger bei ihrer Heirat. Von den sechs Geschwistern von Amalias Opa hatten fünfmindestens ein uneheliches Kind. Von dem letzten Bruder weiß ich es nicht. Da bei unehelichen Kindern oft der Vater gar nicht vermerkt wurde, ist es durchaus möglich.
Schon Amalias Uroma war bei ihrer Heirat schwanger gewesen. Und auch in dieser Generation hatten mindestens zwei weitere Geschwister uneheliche Kinder. Die älteste Schwester war außerdem selber vor der Eheschließung ihrer Eltern geboren worden. Sex vor der Ehe hat in dieser Familie also geradezu Tradition.
Es bleibt die Frage, wie mit diesen unehelichen Kindern umgegangen wurde. Viele von ihnen sind früh gestorben. Sie erlebten meist nicht einmal ihren zweiten Geburtstag.
Das deckt sich mit den Statistiken, denn im 19. Jahrhundert starben uneheliche Kinder doppelt so häufig wie eheliche. Doch bei der Familie Wild greifen die typischen Erklärungen nicht. Die Mütter waren nach wie vor in ihrer Familie integriert, hatten also keine erhöhten materiellen Sorgen. Sie haben vermutlich nicht gestillt, aber das haben zu dieser Zeit auch Ehefrauen meistens nicht getan.
Die höhere Sterblichkeit der unehelichen Kinder kann bei dieser kleinen Stichprobe Zufall sein, oder sie ist auf anderen Umgang mit diesen Kindern zurückzuführen. Aber bei acht dieser elf Fälle haben die Frauen die Väter ihrer Kinder später noch geheiratet. Wieso sollten die Kinder also anders behandelt werden, wenn die Eltern ein etabliertes, vielleicht sogar verlobtes Paar waren?
Manche spannenden Fragen lassen sich leider schwer oder gar nicht beantworten. Einige Hinweise geben das Umfeld und die Zeitgeschichte.
Das Phänomen der vielen unehelichen Kinder beschränkte sich nicht nur auf diese eine Familie. Der Pfarrer des Ortes machte sich sicher nicht ohne Grund die Mühe, am Ende jedes Jahres eine kleine Statistik über die geborenen Kinder ins Kirchenbuch zu schreiben. Daraus ist erkenntlich, dass zu Beginn der 1830er über ein Drittel aller Kinder in dieser Gemeinde unehelich geboren wurde. Und da sind die Kinder, die durch nachträgliche Trauung der Eltern ehelich wurden, schon raus gerechnet.
Wir sprechen hier von einer Zeit, zu der für die Eheschließung eine staatliche Genehmigung eingeholt werden musste. In den Staatsarchiven findet man sogenannte Ansässigmachungs- und Verehelichungsakten, die äußerst interessant sind, da sie beispielsweise Zeugnisse, Arbeitsnachweise oder Impfbescheinigungen enthalten. Die Ehewilligen mussten nachweisen, dass sie in der Lage waren, eine Familie zu ernähren, ansonsten durften sie nicht heiraten. Insbesondere für Bauersleute hieß das, dass sie einen eigenen Hof haben mussten. Da aber auch die Anzahl der Höfe reguliert war, blieb ihnen nur, den Hof der Eltern zu übernehmen, den Beruf zu wechseln (was meist einen gesellschaftlichen Abstieg bedeutete) oder unverheiratet zu bleiben. Es überrascht nicht, dass zu dieser Zeit die große Auswanderungswelle nach Amerika begann.
Zumindest ein Teil der unehelichen Geburten wird also damit zu erklären sein, dass die Eltern schlichtweg lange warten mussten, bis sie heiraten durften. Darum sehe ich in den unehelichen Geburten etwas positives. Es scheint nämlich so, dass die Paare einander gewählt haben. Hier wurde nicht aus wirtschaftlichem Kalkül sondern aus Liebe geheiratet.