"So sehr es wünschenswerth ist, daß der Kinderwagen den Kindermantel der Wärterin ersetze, so giebt es doch noch vorurtheilsstarre oder zu nachsichtige Mütter, welche den Mantel, dieses Kleidungsstück, welches viele Krüppel aus sich hervorgehen ließ, noch dulden, namentlich weil Wärterinnen nicht gern mit dem Wagen ausgehen; jüngere können mit diesem Fuhrwerke nicht überall heimlich hinschlüpfen, wo sie nicht hin sollten, in dumpfe Stuben ihrer Bekannten und Verwandten, auf Plätze des Stelldicheins; ältere Wärterinnen halten es unter ihrer Würde, "in der Karre zu fahren", und stolziren lieber im Mantel mit langem Behänge umher, um ihr Kind zu repräsentiren und sich dem Publikum zu empfehlen.

Das Tragen im Mantel, worin das Kind eigentlich hängt und mit eingepreßten, gekrümmten Beinen und schiefgedrängter Hüfte den Oberkörper balancirt, geschieht gewöhnlich auf einer Seite, der linken der Wärterin; in dieser abnormen Lage verweilt das Kind oft täglich stundenlang und, wenn es einschläft, sinkt es mit verdrehtem Rückgrat in sich gebogen zusammen auf die Schulter und Brust der Wärterin. Die Folge davon ist, daß die in der Entwicklung befindlichen Beine, Hüftknochen und Rückenwirbel in einer abnormen Lage sich gegenseitig beengen, verschieben, die Gelenkknorpel und Bänder sich unregelmäßig ausbilden und eine Stellung eingehen, die durch die abnorme Muskelaktion, bei theils erschlafft, theils verkürzt gehaltenen Muskeln, zu einer allmähligen Verschiebung und Deformität führt. Da die rechte Seite des Kindes mit dem rechten Arme an den Körper der Wärterin gepreßt ist, so leiden nicht nur die inneren Organe sondern auch Rippen und Arm dieser Seite in ihrer gleichmäßigen Entwicklung, und das Kind gewöhnt sich, mit dem freien, linken Arme allein zu agiren, woher sich das häufige, sogenannte Linkssein schreibt, weil die linke Hand mehr Kraft und Uebung erhält. Diese Andeutungen, die sich noch weiter ausführen und mit vielen Thatsachen an verunstalteten Fuß-, Bein-, Hüft-, Wirbel-, Rippen- und Brustknochen nachweisen ließen, mögen genügen, um Mütter vor dem Kindermantel zum "Promeniren der Wärterin", als einer Ursache mancher Entwicklungshemmung und lebenslänglicher Verkrüppelung zu warnen, und sich solcher eigensinnigen Wärterinnen ohne Nachsicht zu entledigen, welche sich im falschen Dünkel weigen, nicht "in der Karre" gehen zu wollen."

Die Mutter als Erzieherin, Dr. med. Hermann Klencke, 1869, S. 200f

»Bei meinem Kind mache ich das anders«

»Bei meinem Kind mache ich das anders«

Jetzt im Buchhandel kaufen oder bestellen bei autorenwelt.de

Schreib mir!

info [at] familie-historisch.de