"Karl und Marie" ist eine Sammlung von Erzählungen von Elise Averdieck. Sie ist gedacht für Kinder von fünf bis neun Jahren und erschien in der ersten Auflage 1851. Im Kapitel "Der vierundzwanzigste December" erfahren wir, wie die Geschwister Marie (6 Jahre alt), Karl (4 Jahre alt) und Elisabeth (1 Jahr alt) den Tag bis Heilig Abend verleben.

Am 24. December früh sechs Uhr kann kein Kind mehr schlafen. Erst flüstern Karl und Marie ein Weilchen mit einander. Als es aber im Nebenzimmer noch immer ruhig bleibt, obgleich Lisbethchen schon erzählt: "Dede und dada und Papa und Mama und Lili," da steigen Beide aus den Betten, ziehen ihre Pantoffeln an, laufen zu Papa und Mama un die Schlafstube und rufen: "Weihnachten ist da!" Papa meint: sie irren sich, und Mama will es auch gar nicht glauben; aber es hilft nichts; Karl und Marie lassen ihnen keine Ruhe mehr, sie haben so viel zu erzählen und zu erinnern und zu bitten, daß die Aeltern nur schnell aufstehen, sich ankleiden und die Kinder treiben, sich auch fertig zu machen, damit um sieben Uhr Alle zur Morgenandacht versammelt seien. "Aber Papa, heute betest Du doch was von Wiehnachten, nicht wahr? fragt Karl. "Ja gewiß," antwortet der Vater "und wir singen dann Alle ein Weihnachtslied dazu. Denkt nur nach, welches das schönste ist." Die Kinder gehen, kleiden sich an und berathen sich dabei. "O du selige?" Nein das geht nicht, das muß am Abend gesungen werden. "Alle Jahre wieder kommt das Christuskind" - das ist gar zu kurz. "Wenn ich in Bethlehem wär', du Christuskind" - dabei müssen die Bilder sein, und die hat Mama schon alle in die Weihnachtsstube getragen.

Ach und nun will Trina den Karl waschen: nun kann er gar nicht sprechen. Und nun müssen sich die Kinder so sehr freuen, nun können sie gar nicht denken. - Ach, und nun klingelt der Papa schon, weil es sieben Uhr ist. Die Kinder laufen mit Lottchen hinunter und singen auf der Treppe ohne es zu wissen und zu wollen: "Mir ist so froh, ich weiß nicht wie, möcht' immer jubeln und singen!" - "Das habt Ihr gut ausgewählt," sagt Papa. Mama setzt sich ans Klavier und Alle singen:

Mir ist so froh, ich weiß nicht wie,
Möcht' immer jubeln und singen,
Und wie eine süße Melodie
Hör' ich's im Herzen klingen.

Es flimmert mir vor den Augen klar,
Als schwirrten die Sterne hernieder,
Mir ist, als hört ich der Engel Schaar,
Der frommen Hirten Lieder.

O lieber treuer Heiland mein,
Du hast mir den Jubel gegeben,
Weil du geworden ein Kindlein klein
Im armen Erdenleben.

Du hast ja in diese Winternacht,
In dieses Stürmen und Toben
So reichen Frühling hineingebracht
Vom lichten Himmel droben.

Du hast so leuchtende Freude heut'
Gestreut un unser Leben,
Mit vollen Händen weit und breit
Deine holden Gaben gegeben.

Und wo du, lieber Heiland, bist,
Muß Licht und Freude blühen,
Und wo deine treue Liebe ist,
Muß Weinen und Klagen fliehen.

Drum klopft mein Herz mir in der Brust,
Daß du ein Kind geworden,
Und hast mit ewiger Liebeslust
Geschmückt den Kinderorden!

Darauf lies't der Vater die Weihnachtsgeschichte aus dem zweiten Kapitel des Evangelisten Lucas, und Alle danken zum Schluß dem lieben Heiland, daß er auf Erden gekommen ist, um uns selig zu machen. Aber nun müssen die Kinder wieder hinauf, und den ganzen Tag oben bei Trina bleiben. Unten wird geschurrt und geschoben, und geklappert und geknittert, das klingt gar wunderlich. Um drei Uhr wird in der Kinderstube zu Mittag gegessen. Papa und Mama und die Kinder sehen so freundlich aus, sie sind gewiß recht gesund, aber keines ist recht hungrig, und wie Karl betet: "Komm, Herr Jesu, sei unser Gast!" da meint er: "Das Christkind kommt eigentlich erst heute Abend, wenn alle Lichter brennen, daher können wir auch gar nicht recht essen." Elisabeth, die sonst bis vier Uhr schläft, hat heute schon um drei Uhr fertig geschlafen und sitzt ordentlich mit zu Tische. Als sie abgegessen haben, gehen die Aeltern hinunter, und die Kinder waschen sich Hände und Gesicht, binden reine weiße Ueberzüge vor und -- warten.

"Karl und Marie", Elise Averdieck, 9. Auflage, 1880