"Unter den Verwandten spielen die Großeltern eine vorzüglich wichtige Rolle. Gewisse Rechte über die Enkel können ihnen auf keinen Fall abgesprochen werden; sind sie ja doch die rechtlichen Stellvertreter der Eltern, falls diese sterben. Auch fehlt es ihnen nicht an einer natürlichen Liebe zu den Enkeln, welche jenen Rechten eine sittliche Unterlage gibt.

Nur das Uebermaß dieser Liebe oder das Uebergewicht derselben über die Vernunft ist es, was ihnen ziemlich allgemein vorgeworfen wird, und wodurch sie zur Erziehung unteuglich sein sollen. Vielleicht ließe sich jedoch erweisen, daß sie noch tauglicher zu wirklichen Erziehern als zu Miterziehern sind. Denn es scheint nicht sowohl Altersschwäche Ursache des Mangels an Energie ihrer Erziehung zu sein, als vielmehr die Ansicht von ihrem Verhältniß zu den Enkeln. Gibt es ja doch Großväter und Großmütter genug, welche körperlich und geistig kräftig genug sind, um in ihren sonstigen Handlungen keine Schwäche zu verrathen, welche gleichwohl den Enkeln gegenüber die ihren Jahren zustehende Weisheit verleugnen. Allerdings wird es dem Menschen, je älter er wird, desto schwerer, sich aus sich selbst heraus zu denken und in die kindlichen Vorstellungen einzugehen; allein es gibt ja doch alte Lehrer in Menge, welche noch Freundlichkeit und Hingebung genug besitzen, um die Jugend mit dem größten Erfolge zu unterrichten, und zum Theile auch zu erziehen; warum sollen es bei den Großeltern gerade die Jahre verschulden? Eine wirksamere Ursache ist wohl die Unterbrechung ihrer Erziehungsthätigkeit und die Ungewohnheit, mit Kindern umzugehen, welche sich ja oft auch bei den Eltern gegen Spätgeborne nachtheilig erweist. Hauptursache aber ist wohl, daß die Großeltern ihren Antheil an der Erziehung der Enkel nicht als eine Pflicht, sondern als ein Spiel, als einen genuß betrachten, wozu noch kommt, daß nachdem die sinnliche Zärtlichkeit gegen Erwachsene erstorben ist, diese gegen die Kleinen in anderer Weise wieder erwacht. Sind ja doch andere Verwandten den Großeltern hierin oft ganz ähnlich. Mag indessen die Ursache sein, welche sie will, die Thatsache steht richtig, daß die Miterziehung der Großeltern häufig eins der größesten Hindernisse der guten Erziehung ist. Und dies Hinderniß ist desto größer, je häkliger es für die eigenlichen Erzieher ist, so geehrten Personen beschränkend entgegenzutreten. Abhülfe dieser Mißverhältnisse ist vor Allem von der allgemeineren Verbreitung pädagogischer Einsichten zu erwarten. Wer einmal gewohnt ist, über die Erziehung zu denken, und dem Ergebniß dieses Denkens gemäß sich Pflichten aufzulegen, der wird auch als Großvater oder Großmutter nicht den bloßen Eingebungen des Augenblicks folgen. Wo aber die pädagogische Bildung die ältere Generation noch nicht erreicht hat, da wird die Aufgabe der Erziehung allerdings eine ungemein schwierige.

Sich verständigen, so weit es mit alten Leuten überhaupt möglich ist, immer und immer wieder von dem Erziehungszweck und den Erziehungsgrundsätzen reden, wird immer schon Etwas bewirken, mindestens Scheu vor auffallenden Mißgriffen. Ferner wird der Erzieher sein eignes Benehmen nach Maßgabe des Einflusses der Großeltern modificiren müssen. Gehören sie ganz zur Familie, so muß er gewissermaßen alle ihre pädagogischen Fehler zu periren sichen; kommen sie nur besuchsweise mit den Enkeln zusammen, so muß er diese schon darauf vorbereiten, gleichsam auf Festtage, an welchen die Alltagsregeln einmal vernachlässigt werden mögen, welche aber nicht oft kommen dürfen.. Die Autorität der Großeltern natürlich nie positiv herabgesetzt werden, indessen hat es doch, wenn höhere Zwecke ins Spiel kommen, weit weniger zu sagen, wenn die Kinder merken, daß die Großeltern aus Schwäche handeln, als die Eltern. Man braucht es wenigstens nicht durch künstliche Mittel zu verdecken."

Lehrbuch der Erziehung und des Unterrichts, Erster Theil. Die Erziehungslehre. Dr. W. J. G. Curtman, 1866

mehr dazu: Großmütter und Erziehung im 19. Jahrhundert

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