Im krassen Gegensatz zu der Strenge, die laut Heinrich Keller Babys und Kleinkindernentgegengebracht werden sollte, steht diese Darstellung der Erziehung von Vorschulkindern.

"Frohsinn in der Kinderstube ist die halbe Gesundheit des Körpers sowie des Geistes. Darum sollte keine Mutter den Frohsinn und Übermut dieser Knirpse stören oder gar 'dämpfen' wollen. Auch nicht wegen der reinen oder neuen Kleidchen. Denn die Kinder sind ja nicht der Kleidchen wegen da, auch nicht um den Ehrgeiz der Mutter zu befriedigen, sondern sie sind Menschen für sich mit ihren eigenen Anschauungen von Behaglichkeit und Lebensfreude, die wir Erwachsenen genau so respektieren müssen, wie wir es gegenseitig bei uns selbst tun oder - tun sollten. Die Kinder aus ihrem vergnügtesten und angeregtesten Spiel mit dem nüchternen Zuruf herauszureißen, daß sie sich doch ihre schönen weißen Kleidchen nicht schmutzig machen sollen, das dürfte auf die Kinder ungefähr so wirken, wie auf uns im Theater die mitten in einer schönen Stelle plötzlich an uns gestellte Frage, wo wir dann nachtmahlen werden, wirken mag. Wenn das Kind dabei unwillig auffährt und, wie man zu sagen pflegt, 'keck' wird, ist es kein Wunder. Es gäbe nicht den zehnten Teil der 'schlimmen' Kinder, wenn so viele Mütter oder Bonnen nur um den zehnten Teil vernünftiger wären.

Eine vernünftige Mutter vermeidet es überhaupt, an diesen kleinen Kindern immerfort herumzuerziehen, d. h. zu verlangen, daß sie keine Menschen sind und immer das tun sollen, was die Mutter gerade für passend findet. Jeder Mensch hat ja Zeiten, in denen er das Bedürfnis nach innerer Sammlung und Einkehr in sich empfindet, mit sich allein, eben er sein will. Wenn die Muttter sich mit dem Buche in der Hand in einen stillen Winkel setzt und den kleinen 'Quälgeist', der sie immerfort mit neuen Fragen beschäftigt, dann unwillig anschnauzt, er solle sie doch endlich einmal in Ruhe lassen, könnte sie da nicht ganz gut daran denken, daß dieser kleine 'Quälgeist', vielleicht manchmal auch vor - ihr Ruhe haben möchte?

Die Mütter brauchen ja nur in den Parkanlagen an den anderen - sich zu beobachten, wie sie das Kind, es mag tun und lassen, was es will, keinen Moment ohne 'Erziehung' lassen, und sie werden sich dann gewiß selbst darüber wundern, daß so ein armes Opfer nicht zum Schluß die Mama oder Bonne ganz energisch ersucht, ihm doch der Einfachheit halber lieber mitzuteilen, was es denn eigentlich tun drüfe. Die 'Schlimmheit' des kleinen Kindes ist meistens nur eine Folge der Unfähigkeit seines Erziehers. Eine heitere, innerlich ausgeglichene Mutter wird mit ihrer ruhigen, immer sich gleichbleibenden Besonnenheit die 'schlimmen' und trotzigen Kinder besser zu lenken verstehen als eine zerfahrene, immer zwischen übertriebener Liebe und besinnungsloser Härte hin- und herpendelnde. Aber freilich, woher soll in unserer freud- und friedlosen Zeit die innere Harmonie kommen?"

Vernünftige und unvernünftige Mütter, Dr. Heinrich Keller, 1917

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