"Ein kleines Kind soll nie geschlagen werden, weil es keine Schläge verdient. Die vermeintlichen kindlichen Verfehlungen sind Äußerungen der Schwäche und Unerfahrenheit.

Ein Kind schlagen, weil es ein kostbares Glas zerbrochen hat, beweist nur die entsetzliche Gedankenlosigkei und Brutalität der Mutter. Woher in aller Welt soll ein Kind wissen, daß Glas erbrechlich ist? Woher wissen, daß es einen Wert hat? Vorher hat ihm die Mutter hundertfach Steine in die Hand gegeben und sich daran gefreut, wenn das Kind sie zur Wiege hinauswarf. Daraus hat das Kind gelernt, daß Gegenstände zu Boden werfen Lärm macht und eine lustige Sache ist. Es handelt also ganz im Zuge der angelernten Praxis. Und nun auf einmal setzt es Prügel für eine Handlung, die bisher Beifall fand. Wie soll das Kind darin einen Ansporn zum Guten finden? Was soll das anderes zeitigen, als das Rechtsgefühl, die Liebe, das Vertrauen und die Lebensfreudigkeit des Kindes zu zerstören? Ein Kind erziehen heißt, es einführen in die ihm unbekannte Welt. Wenn wir Erwachsenen plötzlich nach China versetzt werden, so begehen wir unausgesetzt Handlungen, die dort als strafwürdig gelten, und wenn wir arglos einen offen stehenden Tempel betreten, so sind wir deshalb des Todes. Wir würden die uns dort bereitete Würdgung und Behandlung als schweres Unrecht empfinden. Weshalb straft man uns, so würde man fragen, für Handlungen, die wir selbst nicht als Schuld empfinden? Und so muß in allen Fällen auch das Kind urteilen, sofern es eines Urteils fähig ist. Da es aber nicht imstande ist, die Handlungen des strengen Erziehers zu verstehen, so wirkt die Strafe nur verwirrend, abschreckend und verbitternd."

Erziehungslehre, Ludwig Gurlitt, 1909

mehr dazu: Gegen körperliche Gewalt als Erziehungsmittel

»Bei meinem Kind mache ich das anders«

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