Auf spektrum.de gibt es seit Januar 2019 einen Artikel mit dem Titel "Erziehung für den Führer" von der Psychologin und Journalistin Anne Kratzer, welcher fleißig auf den Social Media geteilt wird. Während er die Folgen schwarzer Pädagogik treffend darstellt, liegt er bei der Historie ziemlich daneben. Leider verfestigt sich dadurch der falsche Blick auf Johanna Haarer und ihren Einfluss auf die heutige Erziehung. Das geht schon im Anrisstext los.
"Um eine Generation aus Mitläufern und Soldaten heranzuziehen, forderte das NS-Regime von Müttern, die Bedürfnisse ihrer Kleinkinder gezielt zu ignorieren"
Fangen wir hinten an, weil der zweite Punkt weniger Erklärung verlangt. Es wurde nicht gefordert, die Bedürfnisse zu ignorieren. Vielmehr wurden Bedürfnisse, wie das nach Nähe und Unterhaltung, nicht als solche anerkannt. Dies waren nach gängiger Meinung (nicht nur in Deutschland!) Wünsche und nicht Bedürfnisse. Wünsche sollten den Kindern nur in geringer Zahl erfüllt werden, damit sie nicht anspruchsvoll würden. Das bedeutet, Kinder standen in der gesellschaftlichen Hierarchie ganz unten, weil sie noch viel zu lernen hatten.
Zum ersten Punkt mag ich darauf hinweisen, dass die Generation aus Mitläufern und Soldaten bereits da war. Dadurch konnten die Nazis überhaupt die Macht ergreifen. In den 2-3 Generationen davor war die Erziehung immer härter geworden. Was gerne als "Nazi-Erziehung" beschrieben wurde, hatte beispielsweise Adalbert Czerny schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts vehement als einzig richtige Erziehung vertreten. Er hielt eine Reihe an Vorträgen, die 1908 unter dem Titel "Der Arzt als Erzieher des Kindes" in Buchform erschienen. Dieses Buch erschien bis 1946 in elf unveränderten Auflagen.
Im Vorwort zur 8. Auflage 1934 stellte Czerny mit Genugtuung fest: „Die Vorlesungen hatten den Zweck, die Ärzte aufmerksam zu machen, daß es ihre Aufgabe ist, sich mit der Erziehung der Kinder zu befassen. Die Aufgabe ist gegenwärtig erfüllt.“ Es waren nämlich ganz besonders die Ärzte, Krankenschwestern und Hebammen, die herangezogen worden waren, um strenge Säuglingspflegeregeln und Kleinkinderziehung durchzusetzen, bevor die Nazis überhaupt an die Macht kamen.
Aber Mitläufer und Soldaten groß zu ziehen war nie das Ziel dieser Pädagogik. Es war zwar die Folge, denn Kinder, denen der Wille früh gebrochen wurde, lassen sich im späteren Leben oft leicht manipulieren. Doch das Ziel war ein körperlich und mental stärkeres Volk. "Abhärtung" war das Zauberwort. In demselben Sinn, wie wir unser Immunsystem stärken, um Infektionskrankheiten besser abwehren zu können, sollte auch der Geist gestärkt werden, um die Unwägbarkeiten des Lebens besser aushalten zu können. Das Gegenteil davon wurde "Verweichlichung" oder "Verzärtelung" genannt.
Der Vorwurf, dass Eltern in einer Art und Weise erzogen hätten, von der sie wussten, dass es ihren Kindern mental schadet, ist absurd. Dass Ärzt*innen und Pädagog*innen einen Erziehungsstil forderten, von dem sie wussten, dass er die Kinder kaputt macht, ist absurd. Sie haben es mit den besten Absichten gemacht und konnten die Folgen aus Mangel an Wissen nicht abschätzen. Das macht das Endergebnis nicht besser, aber der Vorwurf der absichtlichen Zerstörung der Kinderseele ist nicht haltbar.
Wir können allerdings sehr wohl einigen von ihnen vorwerfen, dass sie nicht willens waren, die Warnzeichen zu erkennen. So leugnete Czerny beispielsweise die Existenz von Hospitalismus und sah die stillen, fügsamen Kinder als Erziehungserfolg.
"(...) es ist in keiner Weise erwiesen, daß den Kindern Nachteile durch den Mangel an psychischer Anregung erwachsen. Es ist vielmehr wahrscheinlich, daß dieselben in anderen Umständen der Hospitalpflege zu suchen sind. Die Erfahrungen in Säuglingshospitälern sind aber dadurch wertvoll, daß man in diesen Anstalten sehen und lernen kann, wie weit sich sie Säuglinge durch Erziehung beeinflussen lassen.
In der Privatpraxis hört man von Kindern, bei denen die Durchführung einer bestimmten Ernährung nicht erreichbar ist, denen eine vom Arzt verordnete Nahrung nicht beizubringen ist, welche nicht liegen, sondern permanent getragen sein wollen, von Kindern, welche sich vor Männern fürchten oder umgekehrt vor jeder Frau mit Ausnahme der Pflegerin u. dgl. m. Solche Beobachtungen fehlen dem Anstaltsarzt, auch wenn er über das größere Beobachtungsmaterial verfügt. Sie fehlen, weil sie unter dem Einflusse der Anstaltserziehung nicht vorkommen."
Der Arzt als Erzieher des Kindes, Adalbert Czerny, 1908
Denn fügsam sollten die Kinder sein! So lange sie Kinder waren. Die Erwachsenen wüssten schließlich besser, was gut für die Kinder sei. Die Kinder hingegen hatten das ja noch nicht gelernt. Erlerntes Wissen und die Beherrschung aller Instinkte und Triebe war seit dem Biedermeier das auserkorene Ziel der Erziehung, und das, was den Menschen zur Krone der Schöpfung machte. Wer sich impulsiv oder instinktiv aufführte - so wie Kinder es halt tun - der hatte noch nicht die höchste Stufe des Mensch-Seins erreicht und auf den wurde dementsprechend hinabgeschaut. Hier hat die Sicht auf das Kind als defizitäres Wesen, als noch nicht vollwertiger Mensch seinen Ursprung.
Der Spektrum-Artikel beginnt mit einem Fallbeispiel. Schon im zweiten Abschnitt wird Johanna Haarer erwähnt. In ihr und ihrem Ratgeber "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" sehen die Patientin und ihre Psychotherapeutin den Urspung für die Bindungsprobleme der Patientin. Das Buch erschien erstmals 1934. Bis Kriegsende sollen nahezu 700.000 Exemplare verkauft worden sein. Die letzte Auflage von 1987 warb mit über 1 Million verkauften Exemplaren.
"Dabei ist Renate Flens, die in Wirklichkeit anders heißt, gerade einmal in den 60ern – also erst nach dem Krieg geboren worden. Doch Haarers Bücher waren Bestseller. Auch im Deutschland der Nachkriegszeit fanden sich noch in fast jedem Haushalt Exemplare ihrer Werke."
Haarers Buch war unstreitig weit verbreitet. Laut Statistik gab es 1939 in Deutschland 20,33 Millionen Haushalte. 1950 waren es in der BRD 16,65 Millionen und in der DDR, wo Haarers Buch nicht weiter aufgelegt wurde, 6,72 Millionen Haushalte.1961 gab es in der BRD 19,46 Millionen Haushalte. Haarers berühmter Erziehungsratgeber konnte also nicht "in fast jedem Haushalt" gefunden werden. Selbst wenn wir ihre anderen Bücher dazunehmen, ist das nicht möglich. "Unsere kleinen Kinder" und "Unsere Schulkinder" hatten nicht annähernd denselben Erfolg wie "Die (deutsche) Mutter und ihr erstes Kind". Haarers restliche Bücher hatten mit Erziehung nichts zu tun. Großzügig geschätzt, stand in den 1960ern also höchstens in jedem zwanzigsten Haushalt eines von Haarers Büchern. Die echte Zahl lag wahrscheinlich weit darunter. Zumal nicht jede Familie, die ein Haarer-Buch hatte, dies auch für die Erziehung heranzog. So wie die Mutter von Anne Kratzer selber verdeutlicht.
Im übrigen unterscheiden sich die späten Ausgaben im Ton und in der Botschaft deutlich von denen vor 1945. Ich arbeite derzeit an einem direkten Vergleich zweier Ausgaben. Auf Patreon habe ich bereits erste Erkenntnisse veröffentlicht und werde dort ausführlich berichten. Eine Zusammenfassung wird es dann hinterher auch hier im Blog geben.
Nun wird die Behauptung aus dem Anrisstext wiederholt und ein weiter vermeintlicher Zweck dieser Erziehung hinzugefügt.
"Um sie zu guten Soldaten und Mitläufern zu machen, forderte das NS-Regime Mütter dazu auf, die Bedürfnisse ihrer Babys gezielt zu ignorieren. Sie sollten emotions- und bindungsarm werden."
Auch das stimmt nicht. Hier wird wieder unterstellt, dass diese Folgen absichtlich herbeigeführt worden wären. Das Konzept der Bindung war jedoch noch völlig unbekannt. Der britischen Psychoanalytiker und Kinderpsychiater John Bowlby äußerte 1940 erstmals grundlegende Ideen seiner Bindungstheorie. Als er 1957 die Bindungstheorie offiziell vorstellte, war sie sehr umstritten. Bowlby selbst, der 1907 geboren wurde, wuchs übrigens mit sehr wenig Kontakt zu seiner Mutter auf. Das war damals in England verbreitet, da auch hier wie in Deutschland die Verweichlichung der Kinder befürchtet wurde, wenn sie zu viel Nähe und Aufmerksamkeit von ihrer Mutter bekämen.
Kinder sollten trotz allem ihre Eltern lieben. Und "Mutterliebe" war ein vielbeschworenes Ideal. Letztlich verbarg sich dahinter ein Pflichtgefühl, statt einer emotionalen Nähe. Doch auch ein Pflichtgefühl ist nichts ohne emotionelle Grundlage. Von daher stimmt auch die Behauptung nicht, Kinder sollten zur Emotionsarmut erzogen werden.
Weiter geht es in dem Spektrum-Artikel:
"Wenn eine ganze Generation systematisch dazu erzogen worden ist, keine Bindungen zu anderen aufzubauen, wie kann sie es dann ihren Kindern oder Enkelkindern beibringen?"
Wie eingangs erwähnt ist genau das der Knackpunkt für die NS-Erziehung. Die Erzieher*innen, Ärzt*innen und Eltern waren selber schon bindungsgestört. Nur so konnte die Schwarze Pädagogik zur Nazi-Zeit ihren Höhepunkt finden. Das ist der Punkt, in dem sich Deutschland von anderen Staaten unterscheidet, indem hier Gegenstimmen zur Schwarzen Pädagogik zur NS-Zeit von staatlicher Seite nicht geduldet wurden. Anderswo wurden gegenteilige Meinungen, die es bis dahin auch in Deutschland gegeben hatte, derweil weiterentwickelt. Doch die Früchte dieser Arbeit wurden weltweit erst deutlich nach 1945 geerntet. Darum unterscheiden sich die Diskurse und der Mainstream in westlichen Ländern kaum. Schlaflernprogramme sind in Frankreich, England oder den USA genauso verbreitet wie in Deutschland. Bindungsorientierte Erziehung ist in all diesen Ländern noch immer eine Nische. Und zwar eine, der heftiger Wind entgegen bläst, weil viel zu viele Menschen noch immer der Meinung sind, Kinder würden zu Tyrannen werden, wenn man sie nicht von klein auf in enge Schranken wiese.
Das berühmteste Schlaflernprogramm stammt von dem US-amerikanischen Kinderarzt Richard Ferber. Nach Deutschland gebracht wurde es 1995 durch das Buch "Jedes Kind kann schlafen lernen" von Annette Kast-Zahn und Hartmut Morgenroth, welches auch in dem Spektrum-Artikel erwähnt wird. Nur die Herkunft der Methode bleibt unerwähnt. Statt dessen werden Parallelen zu Haarers Empfehlungen gezogen, als ob sie Patin für "Jedes Kind kann schlafen lernen" gestanden hätte.
"Das Baby als ein Quälgeist, dessen Wille es zu brechen gilt – so sah Johanna Haarer Kinder."
Das stimmt zwar, aber durch die Darstellung im Artikel erscheint es so, als sei das Haarers Herausstellungsmerkmal. Das Gegenteil ist der Fall. Es findet sich in Haarers Buch nichts, was nicht gängige Sichtweise zu der Zeit gewesen wäre. Auch in den Nachkriegsausgaben ist das so. Die Ausgabe von 1979 hat denselben Titel, um mit der Auflagenhöhe werben zu können. Inhaltlich handelt es sich jedoch um ein komplett anderes Buch, das vergleichbar ist mit Neuerscheinungen aus derselben Zeit.
Die Folgen der Schwarzen Pädagogik spüren wir bis heute. Das wird auch von Anne Kratzer in ihrem Artikel gut herausgearbeitet. Sie legt nur einfach zu viel Gewicht auf die Person Johanna Haarers.
"Nachverfolgen lässt sich der Einfluss Haarers höchstens am klinischen Einzelfall, wie bei der Patientin von Katharina Weiß. »Meistens stehen in solchen Therapien ganz andere Themen im Vordergrund. Aber nach einiger Zeit hört man dann Hinweise auf Haarer: Ekel vor dem eigenen Körper, strenge Essensregeln oder Beziehungsunfähigkeit«, sagt die Psychoanalytikerin."
Das sind keine Hinweise auf Haarer. Das sind Hinweise auf eine von strengen Normen und Regeln geprägte Erziehung, bei der Körperlichkeiten und emotionale Nähe als Schwächen und schlecht für die Entwicklung galten. Eine Erziehung, die ihren Ursprung hat in der westlichen Medizin, die ab einem gewissen Punkt die körperliche und geistige Gesundheit für absolut kontrollierbar hielt, wenn das medizinische Wissen nur in exakte Regeln und in Gramm und Volumen messbare Mengen umgesetzt und haargenau befolgt würde.
Da sich Menschen - und insbesondere Kinder - aber nicht ohne gewisse Gegenwehr in Formeln und Grenzen pressen lassen, wuchs über mehrere Generationen hinweg der Frust der Fachleute und der Eltern und anstatt die Regeln als unvernünftig und unpassend über den Haufen zu werfen, wurden sie immer strenger und enger, denn dass der menschliche Verstand hinter dem Bauchgefühl, den Instinken und Bedürfnissen zurückstehen sollte, war für die Krone der Schöpfung und insbesondere für die angeblich beste "Menschenrasse" absolut inakzeptabel und einfach undenkbar.
Wäre es nur eine Frau Haarer gewesen, die einen Erziehungsratgeber geschrieben hatte, so könnten wir heute einfach drüber lachen und ihre absurden Ideen ad acta legen. Das können wir aber nicht. Weil Haarers Buch nur ein Symptom war. Keine Ursache.
Die NS-Zeit war eine Hochzeit für Erziehungsratgeber. Es gab sie wie Sand am Meer. Einige von ihnen - besonders die von staatlichen Stellen herausgegebenen - waren sogar noch viel schlimmer als Haarers Buch. Möglicherweise liegt darin sogar ein Teil des Erfolgs von Haarers Buch. Es wirkte im Vergleich noch liebevoll und harmlos. Dass es das nicht ist, ist uns aus heutiger Sicht klar. Doch damals stach Haarer nicht durch ihre Härte heraus. Es ist also falsch vom "nach Haarer erzogenen Kind" zu sprechen. Insbesondere wenn dieses Kind als Beispiel für die Schwarze Pädagogik dienen soll. Zum einen ist Haarer ist nur ein kleiner Teil der Schwarzen Pädagogik, zum anderen waren die Vorläufer der Schwarzen Pädagogik schon schlimm genug, denn sie haben durch die emotionale Distanz der Eltern zu ihren Kindern etabliert, durch die die Schwarze Pädagogik erst entstehen konnte.
Nun könnte dieser Beitrag hier zu Ende sein, weil gezeigt wurde, dass die Fokussierung auf Haarer nicht nur faktisch falsch ist, sondern auch die Ausmaße des Problems und die tiefen Wurzeln der negativen Sicht aufs Kind in unserer Gesellschaft verharmlost. Doch diese Verharmlosung verhindert eine konstruktive Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit, die aber notwendig ist, um die gesellschaftliche Loslösung aus den Fängen der defizitorientierten Sicht aufs Kind hin zu einem bindungsorientierten und wahrhaft respektvollen Umgang zu bewerkstelligen.
Allein dass ein Michael Winterhoff nicht nur mit seinem unsäglichen Tyrannen-Buch erfolgreich sein und durch sämtliche Talk-Shows tingeln konnte, sondern auch als Kinderpsychiater in seiner Praxis großen Schaden anrichten konnte, wie neulich durch die Dokumentation "Warum Kinder keine Tyrannen sind" (noch online bis 9.8.2022) von Nicole Rosenbach gezeigt wurde.
Wir müssen als Gesellschaft an einen Punkt kommen, an dem allein die Vorstellung, Kinder könnten sich zu Tyrannen entwickeln, wenn die Eltern zu nett zu ihnen sind, ein empörtes Abwinken auslöst. Diesen Punkt erreichen wir nicht, wenn Menschen wie Winterhoff von den Medien hofiert werden. Es muss im öffentlichen Diskurs eine klare Linie gesetzt werden, dass solche Ansichten in einer gerechten und zukunftsorientierten Gesellschaft keinen Platz haben. Wer sich intolerant gegenüber Kindern und ihren Bedürfnissen äußert, den muss die volle Breite von Karl Poppers Toleranz-Paradoxon treffen. Dem darf keine Bühne gegeben werden. (Mehr zu Winterhoff auf kindersindkeinetyrannen.de und auf Twitter unter den Hashtags #winterhoff #wegMitWinterhoff)
Wir werden es aber nicht schaffen, diese Sicht aufs Kind als ein Mangelwesen aus der Gesellschaft zu tilgen, wenn wir die entsprechende Erziehung immer und immer wieder auf Johanna Haarer und die Nazis reduzieren.
Diese Reduktion auf "die Haarer ist Schuld" führt nämlich zu dem Umkehrschluss, dass (a) wer nicht nach Haarer erzieht, kein Nazi sein könne, und (b) dass wir nur ihre Methoden offen legen müssten, und dann schon alle Welt sehen würde, wie schlimm das ist, schließlich will ja kein anständiger Mensch ein Nazi sein.
Zu (a) will ich anmerken, dass heutige Nazis längst nicht mehr nach "Nazi-Methoden" erziehen. Die Erziehung der Nazis zielte eben noch nie darauf ab, Kinder kaputt zu machen, sondern im Gegenteil, sie - die Nachfahren und Zukunft der "Herrenrasse" - zu verbessern und elitär zu etwas Höherem zu erziehen. Nazis sind nicht doof. Wäre schön, wenn sie es wären. Nazis haben begriffen, dass Bindung wichtig ist, um ihre Kinder nicht nur an sich, sondern auch an die Sache zu binden. Zudem kommen ihnen langes Stillen und eine Betonung der Mutter-Kind-Bindung sehr gelegen, um Mütter wieder an den Herd zu fesseln. Dementsprechend sind sie oft der BO-Bubble unterwegs und man muss sehr aufpassen, dass man ihnen nicht auf den Leim geht.
Zu (b) muss ich sagen, dass wir Eltern, die ihre Kinder streng erziehen oder die aus Verzeiflung ein Schlaflernprogramm durchführen, nicht um die Ohren hauen können, dass dies Nazi-Methoden seien. Das führt nur zu Abwehrreaktionen, die eine konstruktive Diskussion unmöglich machen. Außerdem ist es faktisch falsch, womit wir sofort unsere eigenen Argumente untergraben.
Doch der Spektrum-Artikel macht genau das. Er versucht aufzuzeigen, wodurch sich "die Erziehung nach Haarer" auszeichnete und tritt dabei in jedes verfügbare Fettnäpfchen.
"Haarers Ratschläge hatten einen modernen und wissenschaftlichen Anstrich, aber sie waren – was größtenteils schon damals bekannt war – falsch und darüber hinaus sogar schädlich. Kinder brauchen Körperkontakt, doch Haarer empfahl, diesen sogar beim Tragen möglichst gering zu halten."
Haarers Ratschläge hatten einen modernen und wissenschaftlichen Anstrich, weil sie damals modern und wissenschaftlich waren. Punkt. Daraus, dass die Autorin des Artikels sich das Tragen so prominent herauspickt, schließe ich, dass sie Sigrid Chamberlains Buch "Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind - Über zwei NS-Erziehungsbücher" gelesen haben muss. Denn Sigrid Chamberlain lässt sich auch ausführlich über das Tragen aus.
Durch Chamberlains Buch ist der Name Johanna Haarer erst ins öffentliche Bewusstsein gerückt worden. Auch sie macht den Fehler, Haarer nicht als typische Vertreterin ihrer Zeit, sondern als außergewöhnlichen Einzelfall mit schwerwiegenden Folgen darzustellen. Meiner Meinung nach liegt in diesem - ansonsten sehr guten - Buch der Ursprung der Popularität Haarers bei Journalist*innen.
Wie Chamberlain behauptet auch Frau Kratzer, dass Haarer empfahl, beim Tragen des Kindes den Körperkontakt möglichst gering zu halten und das Kind in einem Abstand zu halten, der es dem Baby schwer macht, Augenkontakt zur Mutter aufzubauen. Das ist schlicht falsch. Haarer erläutert die Trageweise lediglich durch Abbildungen. Sie äußert sich nicht zu Abständen oder Augenkontakt. Die Abbildungen entsprechen völlig den damals sowieso üblichen Trageweisen. Die einzigen Hinweise Haarers beziehen sich auf das sichere Tragen, damit das Kind nicht runter fällt.
Schon im Biedermeier war es üblich, Kinder ab Sitzalter mit geschlossenen Beinen auf dem Unterarm sitzend zu tragen. Der freie Arm hielt das Kind zur Unterstützung unter der Achsel. Kleine Babys wurden in Tragkissen eingewickelt und möglichst gerade gehalten. Dass dadurch eine Distanz zwischen tragender Person und Baby geschaffen wurde, auf die das Baby das Gesicht der Tragenden nicht scharf sehen konnte, war eine Folge, aber keine Absicht. Sie dachten eh, dass Neugeborene noch kaum etwas von ihrer Umgebung mitbekommen würden.
Tragen nach Haarer 1938 | Tragen nach Zerwer 1914. |
Tragen nach Liepmann 1914/1921 |
"Randomisiert-kontrollierte Studien, die den Einfluss von Haarers Erziehungsratschlägen experimentell untersuchen, sind aus ethischen Gründen nicht durchführbar. Doch auch Forschungsarbeiten, die sich nicht expliziert mit der Erziehung im Dritten Reich befassen, lieferten wertvolle Hinweise, meint Grossmann. »Alle Daten, die wir haben, deuten auf Folgendes hin: Wenn man einem Kind in den ersten ein oder zwei Lebensjahren eine feinfühlige Ansprache vorenthalten würde – so wie Johanna Haarer es propagiert hat –, bekäme man die eingeschränkten, emotions- und reflexionsunfähigen Kinder, die wir aus der Forschung kennen.«"
Genau. Es gibt viele Erziehungsstile und viele Umstände, unter denen Kinder so groß werden und wurden, wie unter anderem auch Haarer es propagiert hat. Es sind viele! Können wir uns bitte zur Abwechslung mal darauf konzentrieren? Nein, sobald es um schlechte Bindung und emotionale Unterentwicklung geht, fällt im öffentlichen Raum (Social Media!) der Name Johanna Haarer. Godwin‘s Law in der Säuglingspflege: je mehr Aufmerksamkeit ein Tweet bekommt, desto wahrscheinlicher wird es, dass die Haarer erwähnt wird. Und Artikel wie der von Anne Kratzer tragen maßgeblich dazu bei.
"»Solche Kinder, die verführbar sind, nicht denken und nicht fühlen, sind praktisch für eine Kriegernation«, sagt Karl-Heinz Brisch, Psychiater und Psychotherapeut am Dr. von Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität München."
Das ist wieder der Mythos vom Kanonenfutter. Das Ziel von NS-Erziehungsmethoden war nicht, bindungsgestörte Kinder und gefügige Soldaten heranzuzüchten. Streng nach dem Motto „wer herrschen will, muss dienen lernen“ war das Ziel das Ausbilden von überlegenen Elitemenschen. Wer sich dabei nicht behaupten konnte, wurde ausgemerzt. Der war ein Abfallprodukt. Das wurde in Kauf genommen, aber war nicht das Ziel.
"Haarer, die als Lungenfachärztin weder eine pädagogische noch eine pädiatrische Ausbildung hatte, wurde von den Nationalsozialisten gezielt gefördert. Die Ratschläge aus ihrem Werk »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« wurden in den so genannten Reichsmütterschulungen gelehrt. Die Kurse sollten allen deutschen Frauen einheitliche Regeln zur Säuglingspflege vermitteln."
Johanna Haarer war Mitglied der NSDAP und engagierte sich unter anderem innerhalb der "Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt" im "Hilfswerk Mutter und Kind" sowie in der "Münchner Mütterschule". Das Buch "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" schrieb sie auf Betreiben des Verlegers Julius Friedrich Lehmann, der ein fanatischer Nationalsozialist war.
Ich störe mich an der Formulierung "wurde von den Nationalsozialisten gezielt gefördert". Das klingt, als käme diese Förderung von obersten Stellen. Vielmehr hatte sie wohl einen findigen Verleger und wusste sich innerhalb des Systems zu positionieren und zu vermarkten. Gefördert wurden aus meiner Sicht diejenigen, deren Bücher von der NSDAP herausgegeben wurden. So zum Beispiel "Der deutschen Mutter. Ein Ratgeber für alle Fragen der werdenden Mutter, der Geburt, der Geburtshilfe und der Säuglingspflege" von Hanns Sylvester Stürgkh. Dies war eine Sonderschrift der Zeitschrift "Gesundes Volk", deren Herausgeber u.a. der Präsident des Reichsversicherungsamtes und der Hauptstellenleiter im Hauptamt für Volksgesundheit der Reichsleitung der NSDAP waren.
"Aber auch nach dem Krieg wurde [Haarers Buch] – vom gröbsten Nazijargon bereinigt – bis 1987 noch einmal von fast genauso vielen Deutschen gekauft: am Ende insgesamt 1,2 Millionen Mal.
Diese Zahlen zeigen, wie viel Anklang Haarers Weltanschauung auch in der Nachkriegszeit noch fand."
Die erste Fassung nach dem Krieg war lediglich von Nazi-Referenzen bereinigt. Das stimmt. Die weiteren Auflagen jedoch waren, wie bereits erwähnt, ganz anders. Es erweckt einen völlig falschen Eindruck vom Erfolg der "Nazi-Methoden", wenn dieses überaus wichtige Detail unter den Tisch fällt. In den 1970ern hätte sich das Buch aus den 1940ern auch ohne Nazi-Sprech nicht verkauft. Den Eltern aus dieser Generation zu unterstellen, sie hätten in einem derartigen Werk nicht den Ursprung erkennen können, und wären ihm gefolgt, wie einst ihre eigenen Eltern, ist überheblich und unverschämt.
Auch wissen wir nicht, wie viele Exemplare im Endeffekt tatsächlich verkauft wurden. Die letzte Auflage wirbt mit dem Slogan "über 1,2 Million verkaufte Exemplare". Aber das bezieht sich auf den Titel seit der Erstauflage 1934. Zudem ist gedruckt nicht dasselbe wie verkauft.
"Zudem sei eine strenge Erziehung bereits vor 1934 in Preußen gang und gäbe gewesen. Nur eine Kultur, die ohnehin eine gewisse Neigung zu solchen Ideen von Härte und Drill besaß, habe so etwas umsetzen können, glaubt Grossmann."
Ja! Genau! Können wir das bitte viel, viel stärker betonen?
"Dazu würden auch die Befunde von Studien aus den 1970er Jahren passen, die beispielsweise darauf hindeuten, dass im norddeutschen Bielefeld damals etwa jedes zweite Kind ein unsicheres Bindungsverhalten aufwies, im süddeutschen Regensburg, das nie zum preußischen Einflussgebiet gehört hat, hingegen nicht einmal jedes dritte."
Auch diese Aussage deutet darauf hin, dass Haarers Einfluss überbewertet ist. Denn in einem faschistischen Regime, das die Erziehung im ganzen Land gleichschaltet, wäre zu erwarten, dass die Folgen auch im ganzen Land gleichmäßig zu beobachten wären. Sind sie das nicht, müssen andere Faktoren eine gewichtigere Rolle spielen. Hier ist es die preußische Erziehung.
Diese ist es, gegen die wir noch heute ankämpfen. Über 5-6 Generationen lang hat sie ihre Wurzeln ausgetrieben. Sie ist tiefer verankert in unserer Gesellschaft, als es ein einziger, noch so sehr gepushter Erziehungsratgeber jemals könnte. Also bitte, bitte, bitte hört auf, Johanna Haarer immer wieder in den Fokus zu rücken. Das lenkt von den eigentlichen Problemen nur ab.
Es ist schade um den Artikel von Anne Kratzer. Sie zeigt wirklich sehr gut die Folgen einer defizitorientierten Erziehung auf. Aber wegen der Fokussierung auf Johanna Haarer wünschte ich, dass der Artikel nicht mehr geteilt würde. Zu oft ist er schon als Augenöffner auf Social Media präsentiert worden. Die Leser*innen meinen nach der Lektüre genau zu wissen, wo all unsere Probleme her kommen: von Johanna Haarer!
Ich hoffe, ich konnte verdeutlichen, warum das nicht nur haltlos und irreführend, sondern auch kontraproduktiv für die Aufarbeitung und den Diskurs ist. Denn dahinter steckt so viel #mehrAlsHaarer.
Der Spektrum-Link wird weiter geteilt werden. Der Artikel ist nicht der erste seiner Art und wird nicht der letzte sein. Aber wenn dir ein solcher das nächste Mal in die Timeline gespült wird, oder wenn jemand die Haarer erwähnt, dann antworte doch mit #mehrAlsHaarer und dem Link zu diesem Beitrag. Das wäre ein guter Anfang, um den Haarer-Mythos zu korrigieren.