Wie wir alle wissen, war die Säuglingssterblichkeit früher sehr hoch. Doch wisst ihr auch, wie groß die regionalen Schwankungen waren? 1883 gibt uns Ernst Kormann folgende Statistik für die Sterblichkeit von Kindern unter einem Jahr.

in der Stadt Genf 12,50 %
im Herzogth. Meiningen 16,15 %
in der Stadt London 17,00 %
in der Stadt Paris 17,50 %
in ganz Preußen 18,00 %
in ganz Sachsen 18,10 %
im Großherzogth. Sachsen-Weimar-Eisenach 18,51 %
im Herzogth. Coburg-Gotha 21,39 %
in der Stadt Leipzig 23.02 %
in der Stadt Berlin 24.00 %
in der Stadt Frankfurt a.M. 24,00 %
im Bezirk Oberfranken (Bayern) 25,00 %
in der Stadt Würzburg 25,4-26,30 %
im Großherzogthume Baden 26,13 % (hier bei den jüdischen Familien nur 15 %)
in ganz Bayern 31,54-33,48 %
in ganz Württemberg 31,20-40,80 %
in den nördlichen Gegenden Württembergs 32,00 %
in den Donaugegenden Württembergs 49,90 %
in Niederbayern, in der Oberpfalz (Bayern) 50,00 %

Dr. med. Ernst Kormann, Das Buch von der gesunden und kranken Frau, 1883

Weiterhin schreibt Kormann, dass in München 15 % aller Kinder gestillt wurden (von Mutter oder Amme), die übrigen wurden künstlich ernährt. In Genf hingegen stillen "viele" Mütter ihr Kinder selbst (keine Angabe von Zahlen).

In der Tat hing die Sterblichkeit von der Stillquote ab. Je weniger oder kürzer in einer Gegend gestillt wurde, desto mehr Kinder starben. Es gab einfach noch keinen geeigneten Ersatz für Muttermilch. Nichtstillen war daher die Todesursache Nummer Eins.

Nach Boekhs bahnbrechenden Untersuchungen an Kindern, die durch Verdauungskrankheiten im ersten Lebensjahr starben, waren ernährt:
an der Brust 1,4%
halb Brust, halb Kuhmilch 15,8%
nur Kuhmilch 24.3%
mit künstl. Nährmitteln 61,4%

Gustav Temme, Die sozialen Ursachen der Säuglingssterblichkeit, 1908

Selbst wenn ein Kind überlebte, waren die Zeichen des Nicht-gestillt-Werdens unverkennbar.

Doch auch später noch macht sich der Segen der Mutterbrust geltend. So hatten die Schulkinder, die früher Brust bekamen, viel bessere Zähne, ihr Zentimetergewicht ist bei ihnen um 7-12 cm größer, je nachdem sie einige Wochen oder zehn Monate gestillt wurden, ja, noch bei der Aushebung für das Militär findet man einen Unterschied: Von den nicht gestillten waren 31%, von den nur drei Monate gestillten 39% und von den ein Jahr gestillten 48% dientstauglich

Dr. med. Paul Croner, Ich und mein Mütterlein, 1915

Trotz alldem nahmen die Stillquoten immer weiter ab.

1890 wurden in Berlin an der Brust ernährt 50,7%, 1895 = 43,1%, 1900 nur 32,5%.

Gustav Temme, Die sozialen Ursachen der Säuglingssterblichkeit, 1908

Mitunter mag diese Abnahme daran gelegen haben, dass Ammen bzw. Ammenmilch für die meisten Menschen unerschwinglich waren.

1 Liter Ammenmilch kostet in Berlin 2,50-3 Mark

Movscha Leibsohn, Zur Entwicklung der Lehre von der Säuglingsernährung, 1903

Zum Vergleich: 1 Liter Kuhmilch kostete 20 Pfennig, Quelle: Geld und Kaufkraft ab 1871

Ist die Mutter außer stande, selbst zu nähren, und ist das Kind kräftig und gesund, so kann ohne Zögern zur künstlichen Ernährung geschritten werden. Sie kommt wohl auch dort in Betracht, wo die Verhältnisse es nicht erlauben, eine Amme zu halten. Der Lohn für dieselbe beträgt durchschnittlich 360 Mark, mit Geschenken ec. rechnet man 430 Mark. Hierzu kommen die Kosten für bessere Nahrung, Kleidung, eventuell Hin- und Rückreise. Daß die Ernährung durch Kuhmilch hiergegen verschwindend billig ist, liegt auf der Hand. Allerdings käme hierzu der Lohn für eine Kinderpflegerin mit etwa durchschnittlich 210 Mark.

J. von Wedell, Mutter und Kind - Ein Lexikon der Kinderstube, ca. 1900

Wie wichtig das Stillen war, schildern die folgenden zwei Beispiele auf beeindruckende Weise.

Während der Belagerung von Paris im Jahre 1870/71 waren die Frauen wegen Mangels an Kuhmilch gezwungen, ihre Kinder selbst zu ernähren. Die Folge war, daß trotz der sehr ungünstigen sonstigen Verhältnisse die Säuglingssterblichkeit von 33% auf 17% sank.

Gustav Temme, Die sozialen Ursachen der Säuglingssterblichkeit, 1908

In der Geschichte der modernen Industrieentwickelung bleibt es eine unvergeßliche Tatsache, daß während der schweren Baumwollenkrisis in England (1860), als die Fabriken geschlossen wurden und eine Hungersnot ausbrach, die Sterblichkeit der Säuglinge um die Hälfte abnahm, weil die arbeitslosen Mütter imstande waren, ihnen statt der sonstigen Opiummixtur die Brust zu reichen.

Gustav Temme, Die sozialen Ursachen der Säuglingssterblichkeit, 1908

Man kann sich anhand dieser Beispiele gut vorstellen, wie wichtig es auch heute noch ist, dass die Kinder in Krisengebieten und an Orten, an denen kein sicheres Trinkwasser zur Verfügung steht, gestillt werden.