Wenn frau nicht stillt, wie findet sie dann eine Amme für ihr Kind? Sie muss eine Frau finden, die selber vor nicht allzulanger Zeit ein Kind bekommen hat. Da es sich um ein Angestelltenverhältnis handelt, wird die Amme aus der Arbeiterschicht kommen, also gesellschaftlich geringer gestellt sein, als die suchende Mutter. Außerdem wird von der Amme erwartet, dass sie im Hause der Arbeitgeber lebt und ihr eigenes Kind nicht mitbringt. Man sucht also eine Frau, die das Geld wirklich dringend braucht, denn ohne Not trennt sich keine Mutter von ihrem Säugling.

Häufig haben Hebammen Empfehlungen ausgesprochen. Sie kannten ja viele junge Mütter und wussten um deren Lebensbedingungen. Doch Ärzte sahen das nicht gern.

"Die Wahl einer Amme kann nur durch den Arzt geschehen, denn dieser allein, nicht die Hebamme, vermag nach genauer Untersuchung zu bestimmen, ob diese oder jene Amme für dieses oder jenes Kind paßt. Es ist eine schwierige Sache für den Arzt, in diesem Punkte das Rechte zu treffen, und es giebt für denselben kein verdrießlicheres Geschäft als eine Ammenwahl. Um so viel mehr hüte sich jede Mutter, nach eignem Gutdünken in dieser Hinsicht bestimmen zu wollen. Hier trügt das Aeußere gar zu leicht, und unter einer scheinbar gesunden Hülle ist nur zu oft ein für das Kind gefährliches Uebel verborgen. Sehr dicke Ammen verlieren bald und leicht ihre Milch, magere Ammen sind deshalb diesen vorzuziehen. Hat die Amme ein frisches mit Roth gemischtes Gesicht, muntere Augen mit ganz reinen, gesunden, nicht rothen Augenlidern, dunkelrothen Lippen, ohne Risse und Schorfe, hat sie ferner weiße, reine und ganze Zähne, sind ihre Brüste gewölbt und strotzend, und nicht schlaff, sackartig herabhängend, sind die Brustwarzen ohne Ausschlag, so kann man nach dieser örtlichen Beschaffenheit schon mit Recht auf die Brauchbarkeit der Amme schließen. Allein kein Arzt wird sich mit diesen Zeichen begnügen, sondern eine recht genaue Untersuchung des ganzen Körpers und des Gesammtzustandes, und hauptsächlich der Milch der Amme vornehmen. Dieselbe ist gut, wenn sie bläulich weiß, wässerig, etwas süß schmeckend und geruchlos ist, wenn sie, in Wasser geträufelt, eine leichte Wolke bildet, nicht aber in dicken Stücken leicht zu Boden sinkt, mit dem Wasser geschüttelt, sich mit diesem vermengt."

Die ersten Mutterpflichten und die erste Kinderpflege, Dr. Friedrich August von Ammon, 1854

Am besten sehe man jedoch am Kind der Amme, ob diese für den Job geeignet sei, so von Ammon. Das Ammenkind dürfe zudem nicht mehr als sechs bis acht Wochen älter sein als das Kind, das der Amme anvertraut werden soll. Später kamen jedoch wichtige Untersuchungen auf Tuberkulose und Syphilis hinzu.

Es ist, als hätte es eine allmächtige Anleitung zur Ammensuche gegeben, an die sich im 19. Jahrhundert alle gehalten haben, denn sowohl von Ammon, als auch Marie Susanne Kübler (1891), Adolph Henke (1832) und J. von Wedell (ca. 1900) beschreiben dieselben notwendigen Eigenschaften für die Amme. Oder sie haben alle voneinander abgeschrieben.

Die Amme soll

  • zwischen 20 und 30 Jahre alt
  • lieber zweit- als erstgebärend
  • lieber vom Land als aus der Stadt
  • lieber still und sanft als keck und lebhaft
  • lieber munter als träge
  • lieber schnell als langsam und schwerfällig
  • lieber dünn als dick
  • frei von Sehnsucht nach Mann, Geliebten, Kind oder Angehörigen
  • nicht zornig, neidisch oder zänkisch sein und
  • ein fleißiges, heiteres, genügsames, verträgliches und arbeitsames Leben führen

Puh! Besonders die Sehnsucht ist eine fürchterliches Kriterium.

Die Milch der Amme wird natürlich auch begutachtet. Und die Art und Weise, wie diese aus der Brust kommt.

Aus den vollen Brüsten soll sich die Milch auf Druck hin in eigentlichen Strahlen entleeren. Sie soll von weißer Farbe und süßem Geschmacke sein. Ein Tropfen derselben, auf den Nagel des Daumens gebracht, soll daselbt stehen bleiben und nicht zerfließen; in ein festgestelltes Glas reinen, kalten Wassers gegossen soll er, ohne sich wolkig zu zerteilen, noch nach einer Stunde sichtbar sein.

Das Buch der Mütter, Marie Susanne Kübler, 1891

Eine gehörige Portion Klassendenken und Überlegenheitsgefühl spielte auch eine Rolle.

Der moralische Charakter und die Sinnesart der Amme ist von sehr großer Wichtigkeit. Man darf natürlich bei der Menschenklasse, aus welcher die Ammen genommen werden, die Forderungen nicht zu hoch spannen, aber man muß doch sicher seyn, daß die Amme frei von Lastern und herrschenden Leidenschaften sey, wenn die Gesundheit des Kindes nicht in Gefahr kommen soll.

Taschenbuch für Mütter, Adolph Henke, 1832

Da ledige Mütter ganz besonders in finanzieller Bedrängnis waren, boten sie sich häufiger für den Ammendienst an als verheiratete Mütter. Czerny machte keinen Hehl daraus, war er von diesen armen Frauen hielt.

"Intelligenz kann man von einer Amme nicht erwarten, denn die intelligenten Mädchen kommen nicht in die Situation, Ammen zu werden."

Der Arzt als Erzieher des Kindes, Prof. Adalbert Czerny, 1946

Aber auch 120 Jahre früher schon wurden Ammen als empathielose, unmoralische Menschen dargestellt, und das sogar im direkten Vergleich zu den Frauen, die die Ammen beschäftigten und somit den Ammenkindern ein grausames Schicksal beschehrten.

"Dadurch, daß Sie sich nun dem Stillen entbrechen und die Mütter jener Kinder als Ammen dingen, nehmen Sie ihnen ihre Ernährerinnen, und tragen auf diese Weise zu ihrem Tode nicht wenig bei. Sie sind also die erste Ursache zu dem Tode dieser armen ungücklichen Geschöpfe, und ohne Sie würden dieselben nicht mutterlos werden. Die gemeinen Weibspersonen, welche sich als Ammen dingen lassen, besitzen zu wenig moralische Bildung, als daß man ihnen das Verlassen ihrer Kinder so hoch anschlagen darf; allein Ihnen, die Sie einen weit höhern Grad von Bildung und weiblichem Zartgefühle erlangt haben, fällt dies vorzüglich zur Last. Sie handeln auf diese Weise nicht allein an Ihren eigenen, sondern auch an den Kindern Ihrer Ammen höchst tadelnswürdig."

Diätetische Belehrungen für Schwangere, Gebärende und Wöchnerinnen, Dr. Johann Christian Gottfried Jörg, 1826

Einen angenehmen Kontrast zu diesen Ansichten liefert Philipp Biedert 1905:

"Ich finde das alles schön und gut, wenn es zu haben ist, nicht gut aber finde ich's, uneheliche Mehrgeburten zu provozieren durch die Bevorzugung einer Zweit- und Drittgebärenden, "weil diese das Geschäft so verstehe", dass sich die eigene Mutter um gar nichts mehr zu kümmern habe. Geradezu abscheulich und eigentlich für das Unsittliche des ganzen Ammenwesens bezeichnend war noch in neuerer Zeit in einem weitverbriteten Ratgeber für junge Mütter die Empfehlung, lieber eine Amme zu nehmen, deren Kind schon gestorben sei, weil dann event. späterer Kummer über Schicksal und Tod ihres Kindes die Brauchbarkeit der Amme nicht mehr störe. Man stelle sich die Betrachtung einer zweiten Ammenkandidatin vor, die nur deshalb zurückgesetzt wurde, weil sie das Unglück hatte, ihr Kind noch am Leben zu haben! Der neue Bearbeiter hat den Satz inzwischen gestrichen."

Die Kinderernährung im Säuglingsalter und die Pflege von Mutter und Kind, Philipp Biedert, 1905

Schon von Ammon berichtet, dass es in größeren Städten Ammenvermittlungsstellen gebe. Diese scheinen die Privatvermittlung mit der Zeit verdrängt zu haben.

"Die Ammenvermittlung wird in Deutschland vielfach als Gewerbe betrieben. Bei der Annahme einer Amme von einer derartigen Vermittlerin sind wir den verschiedensten Täuschungsversuchen ausgesetzt. Zunächst einmal macht die Amme im gegebenen Falle falsche Angaben über ihre Vorgeschichte, ferner kann sie ein fremdes, tadellos gediehenes Kind als eigenes vorzeigen, um dadurch die Ergiebigkeit und die Güte ihrer Brust zu beweisen. Die Brust selber kann in dem Zustande einer Stauung gezeigt werden und dadurch vorübergehend eine reichliche Menge von Milch enthalten. Letzterer Täuschung begegnen wir am zweckmäßigsten dadurch, daß wir das Kind trinken lassen, die Milchmenge wägen und nach einer Pause von drei Stunden das Kind erneut anlegen. Ist die Brust ergiebig, so ist innerhalb der drei Stunden wieder eine genügende Menge von Milch gebildet worden."

Der Säugling, Dr. Otto Köhler, 1921

Es war also nicht einfach, eine gute Amme zu finden. Noch weniger einfach war es jedoch, als Amme arbeiten zu müssen.