In vielen Erziehungsratgebern des 19. Jahrhunderts wird Gehorsam von den Kindern verlangt. Ohne ihn sei eine Erziehung gar nicht möglich und manche behaupteten sogar, er sei den Kindern ein Bedürfnis.

Besonders unnachgiebig in der Forderung nach dem Gehorsam waren freilich die Ratgeber in den 1930ern und 1940ern. So hier Adalbert Czerny:

"Wer sich nicht gleich dazu entschließen kann, ein Kind zu strafen, um es zum Gehorsam zu bringen, der wird oft dazu gezwungen, wenn er die Methode der Belohnung erschöpft hat. Dies ist bereits die Korrektur eines Erziehungsfehlers, der vermieden werden sollte."

Der Arzt als Erzieher des Kindes, Prof. Adalbert Czerny, 11. Auflage, 1946

Doch es gab auch Gegenstimmen. Eine davon gehörte Ludwig Gurlitt. Er war Reformpädagoge und sprach sich dafür aus, Kindern möglichst viele Freiheiten zu lassen. Sowohl für kleine als auch für große Kinder lehnte er den Ruf nach striktem Gehorsam ab. Er erkannte richtig, dass dieser durch das Aufblühen preußischer Werte ausgebrochen war.

"Auf der einen Seite stehen die Leute, die wir als Pflichtfanatiker bezeichnen. Zumeist sind es Träger altpreußischer Tradition. Sie sprechen von einer 'verdammten Pflicht und Schuldigkeit'. Sie lieben kein Räsonnieren der Jugend; fordern, daß sie 'Oder pariere'; und es schwebt ihnen als das Mustergültige der Gehorsam vor, der auf dem Exerzierplatze geübt wird, und dem nach ihrem Urteile Preußen und Deutschland seine politische Machtstellung verdankt. Dieser Geist unerbittlicher Pflichtstrenge hat sich eben wegen der militärisch-politischen Erfolge auf weite Gebiete unseres gesamten öffentlichen Lbens erstreckt. Er beherrscht im wesentlichen das Beamtentum und, da unsere Lehrer und Lehrerinnen jetzt auch vorwiegend der Zahl und dem Wesen nach Beamte sind, auch die staatliche Jungenderziehung."

Erziehungslehre, Ludwig Gurlitt, 1909

Als ein Zeichen von Ungehorsam galt der Trotz. Für diejenigen, die strengen Gehorsam forderten, war der Trotz mit noch mehr Strenge zu unterdrücken. Gurlitt jedoch war der Meinung, Trotz (es ist nicht nur der in der Trotzphase gemeint, sondern jegliches Aufbegehren gegen die Eltern und Erzieher'innen) könne vermieden werden, wenn dem Kind Freiheiten gegeben werden.

"Dieser Trotz ist nach dem Urteil alter Pädagogik das schlimmste Symptom jugendlicher Verderbtheit. Und es gilt als alte pädagogische Weisheit, den Trotz zu brechen. Ich kann diese Weisheit nicht anerkennen. Mir selbst sind - und ich habe das fünfzigste Lebensjahr schon überschritten - Kinder von unberechtigtem und unbrechbarem Trotz noch nie begegnet. Ich bin deshalb wohl inkompetent in dieser Frage, falls ich die Behauptung wage, daß der unbeugsame Trotz, ebenso wie die unbesiegbare Lügenhaftigkeit Erziehungsfehler sind. In meinem eigenen Hause wachsen drei Kinder auf, die weder lügen noch trotzig sind. Ich rechne ihnen das nicht zum Verdienste an, weil ihnen zu beiden UNarten gelegenheit überhaupt nicht gegeben wird. Es wird ihren berechtigten kindlichen Wünschen soweit nachgegeben, wie den berechtigten Wünschen der Erwachsenen. Es wird von ihnen kein Gehorsam gefordert, außer wo er unerläßlich und durch die Verhältnisse selbst geboten ist. Darum erkennen sie die Berechtigung des Gebotes an und fügen sich ohne lauten, selbst ohne stillen Trotz. Will einmal ein heftig aufflackernder Wille sich durchsetzen, so mag er sich ins Leere verpuffen. Ich stelle ihm nicht gleich die drohende Faust entgegen."

Erziehungslehre, Ludwig Gurlitt, 1909

Gurlitt sprach sich ebenso gegen die vorherrschende Ansicht aus, dass es eine Hierachie zwischen Erwachsenen und Kindern gäbe. Für ihn waren sie gleichwertig.

Die Erziehung unserer Großväter war tyrannisch. Als höchste Weisheit galt das Gebot, Order zu parieren. Das Kind sollte willenlos ein und sein ganzes Glück finden in der freiwilligen oder erzwungenen Unterordnung unter den elterlichen Willen. Seitdem hat jede folgende Generation die Härte der Erziehung gemildert und wir sind schließlich angelangt bei einer Erziehung, die das Recht der Kinder den Eltern gegenüber mit Entschiedenheit, oft vielleicht mit Übertreibung geltend macht. Aber es ist doch viel gewonnen, daß man heute von einem Rechte der Kinder den Eltern gegenüber sprechen darf, ohne auf Entrüstung und plumpen Spott zu stoßen. Wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, daß die Kinder nichts Schlechteres sind als ihre Eltern. Sie sind nur später geboren, nur jünger an Jahren, nur ärmer an Erfahrung. Es ist keine Untugend, ein Kind zu sein. Es ist zumal keine Schuld. Das Kind hat auch keine Verpflichtung, dem Erwachsenen gleich zu sein, auch nicht einmal die Pflicht, dem Erwachsenen ähnlich zu werden. Es hat zunächst nur eine Pflicht, nämlich die: sich seiner Natur, seiner Umgebung, also auch seiner Zeit gemäß zu entwickeln.

Erziehungslehre, Ludwig Gurlitt, 1909

Doch selbst Autoritäten, die anerkannten, dass Gurlitt im Prinzip Recht hatte, waren der Meinung, dass so eine ideale Erziehung für die normalen Eltern nicht zu leisten sei, und darum Kinder nicht die Freiheiten haben könnten, die Gurlitt forderte. Diese Freiheiten standen eben auch im Kontrast zu dem Gehorsam oder der Subordination, die von allen Seiten gefordert wurde.

Es gibt zwei extreme Richtungen, zwischen denen wir wohl den Mittelweg zu wählen haben. Die einen stellen in den Vordergrund der Erziehung die Erziehung zur Selbstbeherrschung und zum Gehorsam und schränken deshalb die Freiheit des Kindes mehr als notwendig ein. Die anderen, wie Gurlitt, gehen von dem Prinzip aus, dem Kinde möglichste Freiheit zu lassen und es allmählich dahin zu lenken, daß es von seiner Freiheit den rechten Gebrauch machen lernt, daß alle Fähigkeiten und Kräfte zur vollen Entwicklung kommen, ohne daß jedoch die gleichberechtigte Natur der Mitmenschen geschädigt wird. Die beiden Richtungen lasen sich durch ein Beispiel charakterisieren. Der Erzieher will, daß das Kind einen bestimmten Weg geht. Der eine errichtet unübersteigbare Schranken zu beiden Seiten des Weges oder verbietet kraft seiner Autorität dem Kinde das Abschweifen vom Wege, und der andere errichtet keine Schranken, weder materielle noch moralische, sondern geht mit dem Kinde auf der Straße und sucht durch seinen ständigen Einfluß zu erreichen, daß das Kind diesen letzten Weg geht. Nun wird trotz des besten Willens die Erziehung nicht ohne Einschränkung der Freiheit zu ihrem Ziele gelangen, es müßte denn sein, daß Eltern so viel Verständnis für Erziehung, so viel Liebe zu ihrer Aufgabe und zum Kinde haben, und schließlich auch so viel Zeit zu opfern imstande sind, um die Erziehung der Eigenart ihres Kindes in vollem Umfange anzupassen. Eine ideale Erziehungsmethode ist es, wie sie Gurlitt in seinem Werke 'Der Verkehr mit meinen Kindern' beschreibt. In jedem anderen Falle, wenn der Erzieher nicht so berufen und geeignet ist wie ein Gurlitt, und wenn die Kinder nicht so gut veranlagt sind wie die seinen, wird die Erziehung zur Subordination, die nun einmal dem Wesen des Kindes zuwider ist, nicht ohne Härte vor sich gehen.

Kinderpflege-Lehrbuch, Dr.med. Arthur Keller und Dr. med. Walter Birk, 1914

Natürlich ist es am bequemsten für die Eltern, wenn da Kind einfach tut, was ihm gesagt wird. Aber selbst in diesem Auszug aus dem Kinderpflege-Lehrbuch von 1914 schwingt mit, dass dann die Beziehung zwischen Eltern und Kind leidet. Denn Beziehungen aufrecht zu erhalten, kostet Zeit und Mühe. Diese zu investieren, ist ein Zeichen von Liebe.