In dieser bemerkenswerten Erzählung von 1897 sehen wir deutsche Arroganz, Kinder- und Fremdenfeindlichkeit in Hochform.

"Es ist nicht lange her, da kam ein reicher Deutsch-Amerikaner mit seiner Familie nach Kissingen. Hier kaprizierte sich seine mit guter europäischer Erziehung und guter europäischer Lebensart nur wenig vertraute Gattin darauf, ihren halbwüchsigen Sohn als Gast und Tänzer in die für die Kurgesellschaft veranstalteten Tanzreunionen einzudrängen.

Der Badekommissar hielt das für ungehörig, da Kinder in Deutschland im allgemeinen in die Kinderstube gehören und nicht in den Tanzsaal; er machte den Vater darauf aufmerksam, daß Kostüm und Alter des jugendlichen Tänzers nicht zu der übrigen Umgebung stimmten. Darob entspann sich ein Wortwechsel, in dessen Verlauf der Vater den Badekommissar gröblich beleidigte und sich sogar zu Realinjurien hinreißen ließ. Der Badekommissar stellte Strafantrag, der Amerikaner mußte eine hohe Kaution stellen (etwa 60-80000 Mark), und das Gericht sollte entscheiden.

Damit zeigte sich aber Bruder Jonathan nicht einverstanden. Er und sein Anwalt setzten Himmel und Erde in Bewegung, um die Kniehosen des jungen Amerikaners aufs Diplomatische hinauszuspielen, nicht ohne scheinbaren Erfolg. Der Fall wurde in Erwägung genommen. Ein Ausgleichsversuch wurde angebahnt. Der Badekommissar aber mochte nichts davon hören, die ihm angedrohten Schläge mit einer Abbitte und etwas Geldbuße gesühnt zu sehen. Da schließlich die ”Ausgleichsverhandlungen“ sich ebenso schwierig zeigten wie die Lösung der Erziehungsfrage, ob ein 14jähriger Knabe auf einen Ball für Erwachsene oder ins Bett gehöre, machte das Gericht in Kissingen einen Strich durch alle Rechnungen und verdonnerte kurzweg den liebevollen Vater zu 14 Tagen Gefängnis und 600 Mark Geldbuße. Hinter bayerischen eisernen Gardinen zu sitzen verspürte der Amerikaner wenig Lust; er ließ durch seinen Anwalt ein Begnadigungsgesuch an den Prinzregenten einreichen und im besonderen um Umwandlung der Gefängnisstrafe in eine Geldbuße bitten. Dieses Gesuch hatte keinen Erfolg. - Man sollte denken, der Amerikaner habe nun seine Kaution stillschweigend fahren lassen. Das geschah aber nicht; sondern zwischen den auswärtigen Ämtern der nordamerikanischen Staaten und des deutschen Reiches ist es dann noch zu einem eingehenden Schriftwechsel gekommen, dessen Folge glücklicherweise war, daß Amerika von Europa einen Korb in bester Form und Güte bekam. Und was war die erste Ursache all dieser Aufregung diesseits und jenseits des Meeres? Die Affenliebe eines schwachen Vaters und einer herrschgewaltigen Mutter."

"Wie erziehen wir unseren Sohn Benjamin? Ein Buch für deutsche Väter und Mütter", Dr. Adolf Matthias, 1897

Dass Kinder- und Erwachsenenwelt gesellschaftlich streng voneinander getrennt sind, merken wir auch heute noch. Es spiegelt sich wider in der strikten Trennung von Berufs- und Privatleben, die die Berufstätigkeit von Müttern erschwert. Es spiegelt sich wider darin, dass Kinder an Orten wie Restaurant, Flugzeug oder Museum nicht willkommen sind. Es spiegelt sich wider in der noch immer herrschenden Kinderfeindlichkeit, in dem Wahrnehmen von Kindern als Störfaktor.