Helene Freifrau von Schroetter schrieb um 1890 unter dem Pseudonym J. von Wedell ein "Lexikon der Kinderstube", in dem sie fein säuberlich von A bis Z alles auflistete, was ihrer Meinung nach eine junge, gut betuchte und tugendhafte Mutter über die Kinderhaltung wissen sollte.

Ja, richtig gelesen. Ich schrieb Kinderhaltung. Das Verhältnis zum Kind ist sehr distanziert. Es ist ein Besitz. Zwar ein geliebter Besitz, aber dennoch ein Besitz. Es werden Erwartungen an das Kind gestellt, die garantiert erfüllt werden, wenn man nach "Schema Wedell" vorgeht.

Neben dem Kind hält sich die Mutter von Welt natürlich auch eine Amme, denn eine Dame der höheren Schichten hat zu viele anderweitige Verpflichtungen, als dass sie sich das Stillen erlauben könnte. Den Eintrag für das Stillen sucht man in diesem Lexikon dann auch vergeblich. Es gibt "Anlegen des Kindes, erstes", "Entwöhnen" und "Ernährung", aber kein Stillen oder Säugen. Das übernimmt die Amme.

Die Beschreibung der Amme und des Verhältnisses zu ihr ist geprägt von Klassendenken. Die Gefühle der Amme und das Schicksal des Ammenkindes sind nicht von Interesse.

Amme. Kannst du die schönste und heiligste Mutterpflicht, das Stillen, an deinem Kinde aus irgend einem schwerwiegenden Grunde nicht erfüllen, so wirst du bestrebt sein, für einen möglichst ähnlichen Ersatz zu sorgen. Trotz der heute weit verbreiteten Ansicht, daß die künstliche Ernährung vorzuziehen ist, wirst du dennoch in manchen Fällen unbedingt eine Amme nehmen müssen. Zunächst, sobald dein Kind zart oder schwächlich ist. Da würde das Experimentieren mit künstlichen Nahrungmitteln geradezu ein Unrecht sein. Die Muttermilch thut da oft förmlich Wunder, wo man bereits das Schlimmste befürchtete. Zweitens bist du genötigt, eine Amme zu nehmen, sobald du auf Reisen oder zu reisen gezwungen bist. Brustkinder empfinden den Wechsel von Land und Luft kaum, während ein Wechsel der Kuhmilch gefährlich werden kann.

Nehmen wir also an, liebe junge Mutter, daß du eine Amme nehmen mußt. An wen willst du dich nun wenden, um eine körperlich und geistig gesunde Persönlichkeit zu erlangen? Zunächst wird der Arzt und die Hebamme um Auskunft anzugehen sein; eine Annonce in einer auf dem Lande gelesenen Zeitung hat ebenfalls oft Erfolg. Lebst du in der Nähe einer Universitätsstadt, so wende dich an den Leiter der Enbindungsanstalt. Derselbe hat Gelegenheit, die Wöchnerinnen kennen zu lernen, hat ihren Gesundheitszustand beobachtet, weiß, wie die Beschaffenheit des Kindes und (hieraus läßt sich auf die Gesundheit der Mutter schließen) ob die Milchabsonderung genügend ist. Diese ärztliche Beobachtung bietet dir die weitgehendste Garantie. Ferner ist es möglich, eine Amme auszusuchen, deren Kind ungefähr so alt ist wie das deine. Auch weiß man genau, wie lange sie vom Kinde entfernt ist, wenn sie bei dir eintrifft. Beides ist aus folgenden Gründen wertvoll. Die weise Mutter Natur steigert mit dem zunehmenden Alter des Kindes auch die Zusammensetzung der Muttermilch. Dieselbe ist in der ersten Zeit für das Neugeborene gerade verdaulich und nimmt allmählich an Konsistenz zu. Nun liegt es auf der Hand, daß ein Kind von drei Tagen geeignetere Nahrung finden wird, wenn der Amme Kind etwa vierzehn Tage alt ist, als wenn es an die Brust gelegt wird, die bereits monatelang stillte. Ist die Amme längere Zeit vom Kinde weg, so muß sie sich regelmäßig die Milch mittelst einer Milchpumpe abziehen. Ist man im Zweifel, seit wie lange die Amme dies zuletzt getan hat, so warte man lieber mit dem Anlegen des eigenen Kindes und lasse die Milch zunächst erst abziehen und lege dann nach zwei Stunden das Kind an. Die Amme soll zwischen 20 und 30 Jahren sein. Aeltere Ammen haben fettärmere Milch. Frauen, die zum zweitenmal bereits den Ammenberuf üben, sind solchen vorzuziehen, die das erstemal stillen. Sie sind erfahren, ruhig, regen sich nicht so leicht auf und sind für die junge Mutter eine wirkliche Stütze. Auch liefert der Zustand des ersten von ihr gestillten Kindes der Mutter gewissermaßen eine Probe für ihre Leistungen.

Die Annahme der Amme geschehe erst nach ärztlicher Untersuchung. Physische Haupterfordernisse sind nach Dr. Fürst gesundes Aussehen, wohlgebildete Brüste von einer gewissen Straffheit, bei Druck leichte Milchentleerung im Strahle, moralische: Sanftmut, Reinlichkeit, Ordnungsliebe.

Der Arzt hat sich ferner nach dem Kinde event. nach dessen Todesursache zu erkundigen. Empfohlen wird, das Kind an der Amme trinken zu lassen, um zu sehen, ob die Milch sich rasch wieder ersetzt.

Bei meinem älteren Knaben hatte ich eine niedliche kleine Bauerndirne, hübsch und frisch wie eine Apfelblüte. Wir hatten sie durch den Lehrer eines kleinen Schwarzwalddörfleins bekommen. Wir fanden sie sehr freundlich und bescheiden, aber obgleich sie sich die redliche Mühe gab, diät lebte, und alle Vorsichtsmaßregeln genau und mit Eifer innehielt, das Resultat war ein negatives. Jedesmal, wenn am Sonnabend abend mein lieber Mann, der sich diese stolze Vaterpflicht nicht nehmen ließ, den Kronprinzen auf Kilo und Gramm wog, war die Zunahme an Gewicht, auf die wir Eltern mit Grete gespannt gewartet hatten, nicht die normale. Vater machte ein enttäuschtes Gesicht, die Mutter weinte im stillen, und Grete schluchzte öffentlich zum Erbarmen. Diese Aufregung, etwas leisten zu wollen, verbunden mit ihrer Jugend, dem Wechsel der Umgebung, Kost und Pflichten - denn man verlangte jetzt von ihr peinliche Accuratesse beim Herrichten des Kinderzeugs und dergl., während sie bisher die Weinberge gerodet hatte - wirkte immer ungünstiger. Das Ende war, daß Baby zurückging, mit einem Vierteljahr 9 Pfund wog und wir Eltern nicht ein noch aus wußten. Der Arzt empfahl einen Wechsel der Amme, und obgleich Grete herzerweichend flehte und bettelte, suchten wir nach Ersatz. Wir fanden ein Mädchen, das bereits einmal und merkwürdigerweise auch unter den Augen unseres Hausarztes genährt hatte. "Die nehmen Sie gleich, die ist ausgezeichnet, deren Leistungen kenne ich." Wir sollten es nicht bereuen. Mit Lene zog die Gesundheit für Baby ein. Baby nahm regelmäßig zu. Lene handhabte den ganzen Dienst in der Kinderstube wie ein Kinderspiel. Sie war weder aufgeregt noch ließ sie sich aufregen, wußte was sie essen durfte, was nicht, und war mir in guten und bösen Tagen eine vortreffliche Stütze.

Diese kleine persönliche Erinnerung hat dir vielleicht Mut gemacht, liebe junge Frau, es mit einer Amme, die den Ammenberuf bereits kennt, zu versuchen. Am Anfang warst du entsetzt; ich las dir dein Widerstreben an der Stirne ab. Gewiß, es ist nicht leicht für eine junge Frau, der die Eltern und der Gatte bisher jegliche moralische und sittliche Unreinlichkeit aus dem Lebenswege entfernt haben, nun auf einmal eine Gefallene in ihr eigenes Haus, in die enge Gemeinschaft der Familie aufzunehmen, ihr Kind an die Brust eines Mädchens zu legen, an dem die sonst verachtungsvoll vorbeigehen würde. Aber du lernst milder denken, meine junge Freundin; du lernst in der Amme eine beklagenswerte, weil unbehütete, schlechterzogene Schwester sehen, die deine Hand und deine Hilfe wieder dem Guten zurückgewinnen kann. Von dem Augenblick an, wo dir die vielleicht nicht unverschuldete, aber doch erklärliche menschliche Sünde nahe tritt, wirst du mitleidig deine Hilfe und Theilnahme dein Leben lang allen denen zuwenden, die in solcher Lage sind. Sieh, das ist ein Gutes, was die Aufnahme der Amme in dein Haus für dich und deinen Charakter bedeutet. Bemühe dich, einen versittlichenden Einfluß auszuüben. Sei menschlich und denke an das Kind der Amme, das, der Quelle seines Lebens, an der dein Kind sich kräftigt, beraubt, vielleicht elend zu Grunde geht. Lehre die Amme Mutterpflichten üben am eigenen Kind, hilf ihr dasselbe unterhalten. Dein eigenes Kind wird den Dank davon haben; denn fühlt sich die Amme frei von Sorgen, so erfüllt sie freudiger ihren Beruf. Die Wechselwirkung zwischen Stillender und Säugling ist ja bekannt.

Aber du wirst noch anderes in dieser Zeit lernen, nämlich Selbstbeherrschung. Zunächst mußt du die Eifersucht bezwingen, die dich beherrscht, wenn du siehst, daß eine andere deinem Kleinod zum Wohlbefinden unentbehrlicher ist wie du. Denke fortgesetzt, daß alle Unnannehmlichkeiten, die du trägst, ein Opfer sind, das du deinem Kinde schuldig bist. Die Gesundheit des Kindes geht allem vor, deshalb mäßige deinen Aerger über unangenehme Charaktereigenschaften der Amme, über die Art, wie sie mit dem Kinde verkehrt, die der deinen nicht entspricht. Rege sie nicht auf, versuche den Frieden aufrecht zu halten, denn dein Kind büßt für dich. Sei aber selbst doppelt gewissenhaft in der Ueberwachung der Amme und ihrer Pflichten. Sei bestimmt und ruhig in deinen Anordnungen, gleichmäßig gütig, aber nicht zu rücksichtsvoll und verlange unbedingten Gehorsam. Die Amme muß wissen, dass du, nicht sie die höchste Autorität in der Kinderstube ist. Ist es dir nicht möglich, dies in Frieden zu erreichen, so rufe dir den Arzt als Helfer. Dessen Machtgebot pflegt sich auch eine störrische Amme meist zu fügen.

Du hast dafür zu sorgen, daß die Amme ein warmes Bett in einem gut gelüfteten Raum hat und eine ausgiebige Waschgelegenheit. Willst du sie nicht bei dir schlafen lassen, so stelle ihr Bett im Nebenzimmer auf, wo du sie kontrollieren kannst, ob sie das Kind ins eigene Bett nimmt, nachlässig im Trockenlegen ist oder gar Schlafmittel eingiebt. Sie muß regelmäßig ihre Nahrung bekommen. Regelmäßigkeit sei überhaupt das Losungswort für deine Kinderstube. Sorge auch für regelmäßige Bewegung, sei es durch Verrichtung von häuslichen Arbeiten, wie Reinigen der Kinderstube, Waschen der Wäsche, oder durch Spazierengehen, Gartenarbeit ec. Die Amme ist meist von früherher Anstrengung gewöhnt. Ihre Lebensweise darf nicht allzu verändert sein, sonst leidet die Gesundheit und dadurch die Milchbeschaffenheit darunter. Zur regelmäßigen Milchabsonderung gehört tüchtige Bewegung. Daher wird auch jeder stillenden Mutter Bewegung empfohlen.

Auf das genaueste hast du die Besuche der Amme zu beaufsichtigen. Im Interesse deines Kindes sind dieselben in der ersten Zeit überhaupt zu verbieten, später sehr einzuschränken. Besuche des Mannes der Amme sind nur unter deiner Aufsicht zu gestatten. Ueberwache ferner das, was die Amme genießt. Nicht selten trinken schlechte Ammen Schnaps, um dadurch für sich und den Säugling ruhige Nächte zu erzielen. Von welch verderblichem Einfluß Alkoholgenuß für Kinder - und nun gar erst in diesem zarten Alter! - ist, weißt du. Aber selbst, wenn es anscheinend gut verläuft, so lassen sich Hautausschläge, Krämpfe u. A., die im vierten und sechsten Jahre auftreten, auf diese Versündigung im Säuglingsalter zurückführen.

Die Diät sei vom Arzte vorgeschrieben, Du vermeidest so jede Verantwortlichkeit für Gerichte, welche die Amme nicht mag, und wogegen sie aufbegehren könnte. Im allgemeinen dürfte sich folgender Speisezettel eignen: Früh 3/4 l Milch, Semmel mit Butter, um 10 Uhr 2 Eier, Butterbrot, leichtes Bier, um 1 Uhr Mittagessen, bestehend aus Milch- oder Mehlsuppe oder Hafer- oder Gerstenschleim, Fleisch, Kartoffeln, nicht blähendem Gemüse, oder gekochtem Obst, um 4 Uhr 3/4 l Milch, Butterbrot, abends Eier und Bier. Kaffee und Thee sind zu vermeiden. Ungewohnt kräftige Kost verbessert durchaus nicht die Milchbeschaffenheit, wie so manche schwache Mütter glauben. Jede Ueberfüllung des Magens der Amme büßt der Säugling. Auch ein Uebermaß an Getränken - ein alter Ammenglaube besagt, daß dadurch mehr Milch abgesondert wird - ist nicht erlaubt. Die Milch wird in diesem Fall dünner, weniger wertvoll.

Du mußt die Amme gewöhnen, dir hinsichtlich ihres eigenen Gesundheitszustandes alles mitzuteilen. Ein verheimlichtes Leiden der Amme ist oft Ursache von unerklärlichen Veränderungen des Kindes. Auf der andern Seite ist unnötiges Doktern mit Hausmitteln streng zu vermeiden. Lieber sofort den Arzt fragen, als erst die Sache verpfuschen lassen.

Der Arzt muß dir auch zur Seite stehen in der Beobachtung der Amme, ob sie genügend Nahrung hat oder nicht. In der Angst, um die einträgliche Stelle zu kommen, versucht die Amme den Mangel so lange wie möglich zu verdecken. Sie beruhigt das Kind auf andere, vielleicht verwerfliche Weise, oder das Kind, ermattet vom vergeblichen Saugen, schläft von selbst erschöpft ein. Die Mutter glaubt es gesättigt und ahnt nicht, daß bitterer Hunger es erschlafft. Die genaueste Kontrolle ist das regelmäßige Wägen des Kindes. Bleibt die Gewichtszunahme gering, so hat der Arzt die Amme zu untersuchen. Er wird entweder Ammenwechsel oder eine Ersatzmahlzeit von Kuhmilch verordnen. Ist das Kind aus dem ersten Halbjahr heraus, so mag man es wohl auch allmählich entwöhnen. Ueber alle diejenigen Kräftigungs- und Ernährungsmittel, welche die Muttermilch ersetzen sollen, sprechen wir an anderer Stelle.

"Mutter und Kind - Ein Lexikon der Kinderstube", J. von Wedell, 1898

Alles eine Frage der Kosten.

Ernährung. (...) Ist die Mutter außer stande, selbst zu nähren, und ist das Kind kräftig und gesund, so kann ohne Zögern zur künstlichen Ernährung geschritten werden. Sie kommt wohl auch dort in Betracht, wo die Verhältnisse es nicht erlauben, eine Amme zu halten. Der Lohn für dieselbe beträgt durchschnittlich 360 Mark, mit Geschenken ec. rechnet man 430 Mark. Hierzu kommen die Kosten für bessere Nahrung, Kleidung, eventuell Hin- und Rückreise. Daß die Ernährung durch Kuhmilch hiergegen verschwindend billig ist, liegt auf der Hand. Allerdings käme hierzu der Lohn für eine Kinderpflegerin mit etwa durchschnittlich 210 Mark. (...)

"Mutter und Kind - Ein Lexikon der Kinderstube", J. von Wedell, 1898

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