Lange Zeit hatten wir in deutschsprachigen Gegenden eine tiefgehende Tradition bindungsfördernder Wochenbettbräuche. Diese sind uns jedoch abhanden gekommen und wurden erst ab den 1970ern mühsam wieder zurück erobert.

"In der ersten Zeit nach der Niederkunft pflegt jedes Kind denselben Aufenthalt mit der Mutter in der Wochenstube zu theilen. Mütter, welche selbst stillen, behalten meistens die Kinder, bis zur Zeit der Entwöhnung, um sich, in ihrem Wohnzimmer."
"Aufmerksamkeit, Uebung und einige Erfahrung werden sehr bald die Mutter darüber belehren, was bei dem Kinde die Ursache des Geschreies seyn könne."
Taschenbuch für Mütter, Adolph Henke, 1832

Das Baby um sich zu haben und sich responsiv um seine Bedürfnisse zu kümmern, ist die beste Grundlage für den frühen Aufbau einer guten Bindung. Für das Baby muss es nicht die leibliche Mutter sein, die diese Aufgaben übernimmt. Es kann auch zu anderen Personen eine gute Bindung aufbauen und bekommt dadurch einen wichtigen Baustein für seine künftige Entwicklung. Aber welche Folgen kann eine schlechte Bindung für die Mutter haben und wie kommt es zu der schlechten Bindung?

Fortschritte in der Medizin veränderten das Wochenbett nachhaltig. Dies hatte einen nachteiligen Einfluss auf das Stillen und auch auf den Aufbau der Bindung. Zu Beginn des 20.Jahrhunderts war es so weit, dass Mutter und Kind nach der Geburt getrennt wurden. In den 1930ern galt es als gefährlich, das Baby zur Mutter ins Bett zu legen, weil man sie und ihren Wochenfluss für hoch infektiös hielt. Damit bekommt die Mutter gleich mal unterschwellig mitgeteilt, dass sie nicht gut für ihr Kind sei.

"In der Klinik hat man für die Mutter und das Kind je eine Pflegerin, deren Pflegebereich scharf getrennt ist; die eine besorgt die Mutter, die andere das Kind und die mütterliche Brust. Der Grund liegt darin, daß die Wöchnerin dem Neugeborenen und umgekehrt das Neugeborene der Mutter Schaden bringen kann. (...)
Diese gegenseitigen Gefahren können durch die in den Kliniken übliche völlige Trennung in der Pflege zum vornherein ausgeschaltet oder wesentlich verringert werden. Die einzige Pflegerin im Privathaus kann ihrer erheblich schwereren Aufgabe nur gerecht werden, wenn sie die Gefahren alle kennt, unnötige Berührungen vermeidet, mit größter Sorgfalt arbeitet und immer erst das gesunde Kind und nachher die Mutter versorgt."
Lehrbuch der Wöchnerinnen- Säuglings- und Kleinkinderpflege für Pflegerinnen, Schwestern und Mütter, Prof. D.r W- Birk, Prof. Dr. A. Mayer, 1930

Bei Geburten in Krankenhäusern, wurden die Babys nur zum Stillen zu den Müttern gebracht. Das hatte zur Folge, dass sich die Mutter bei der Entlassung erst mal ihr eigenes Kind von den Schwestern erklären lassen musste.

"In den letzten Tagen des Klinikaufenthaltes muß sich die junge Mutter mit den Lebensgewohnheiten ihres Kindes vertraut machen, mit dem Arzt und der Säuglingsschwester die zweckmäßige Nahrungsart und -menge besprechen und sich in die zur Pflege des Kindes notwendigen praktischen Handgriffe einweisen lassen. Geburts- und Entlassungsgewicht sind aufzuschreiben, jede Mutter hat Anspruch zu erfahren, ob ihr Kind durchschläft oder häufig schreit und ob, wenn es geschrien hat, in der Nacht dem Kind Nahrung gereicht wurde. Wir raten jeder jungen Mutter, die Pflege ihres Kindes, wenigstens in den ersten Lebensmonaten, selbst durchzuführen, um eine möglichst enge Bindung zwischen sich und dem Kinde herzustellen aus der Erfahrung heraus, wie tief die Freude der Mutter ist, wenn sie in eigener Hingabe an ihr Neugeborenes die ersten Lebensregungen und die Zuneigung des Kindes erwachen und aufblühen sieht."
Mutter und Kind - Eine Anleitung zur Säuglingspflege, überreicht vom Standesamt, Prof. Dr. Erich Graser, 1959

Dabei war es lange bekannt, dass eine enge Beziehung und somit eine gute Bindung die beste Voraussetzung für die Entwicklung des Kindes sind. 

"... denn die Mutterliebe und die Beschäftigung mit dem Kinde veranlaßt die Mutter, ihre Erziehung der Eigenart des Kindes anzupassen, und sie lehrt die Mutter, zu verstehen, daß das Kind seine eigne Art und Weise zu denken, zu fühlen und zu wollen hat. Und darum wird von einer verständigen Mutter nur allzu häufig der beruflich ausgebildete Erzieher oder die Erzieherin in der Erziehung des jungen Kindes übertroffen werden, und wir werden daraus lernen, daß für die Erzieherin die liebevolle Beobachtung des Kindes, das ihr anvertraut ist, und das verständnisvolle Eingehen auf seine Eigenart die erste Vorbedingung für den Erziehungserfolg ist."
Kinderpflege-Lehrbuch, Dr.med. Arthur Keller und Dr. med. Walter Birk, 1914

Die Person, die das Kind primär betreut, kennt es auch am besten, und zu dieser baut das Kind eine Beziehung auf. Das führte bei Ammenhaltung dazu, dass die Bindung des Kindes zur Amme fester und inniger war als die zur Mutter.

"Für ein Kind, das durch eine Amme oder durch eine Pflegerin ernährt wird, bleibt die Mutter eine fremde Person trotz aller Verwandtschaftsverhältnisse, und die Entfremdung des Kindes ist umso stärker, je seltener ein Kind seine Mutter zu sehen bekommt. Eine Mutter, die ihr Kind nicht selbst nährt, schafft bereits im ersten Lebensjahre zwischen sich und dem Kinde eine Kluft, welche später nie mehr vollständig auszugleichen ist."
Der Arzt als Erzieher des Kindes, Prof. Adalbert Czerny, 11. Auflage, 1946

Es ist daher nicht verwunderlich, dass so manche Mutter die Amme eifersüchtig beobachtete.

Auf der anderen Seite gab es aber auch Mütter und Väter, die kaum ein Interesse daran hatten, sich um ihre Kinder zu kümmern oder sie auch nur um sich zu haben. 

"Ich habe Mütter kennen gelernt, die nicht zu bewegen waren, ihrem Kinde die erste Treue zu erweisen, sondern die sich sobald als möglich desselben entledigten und es der nächsten besten Kostfrau übergaben. Leider kommt es auch vor, daß der Vater das kleine Kind aus purer Bequemlichkeit nicht im Hause duldet, da möge dann die Mutter seine Rechte vertreten!"
Kinder-Diätetik. Eine Anleitung zur naturgemäßen Pflege und Erziehung des Kindes, von L.W. Mauthner Ritter von Mautstein, 3. Auflage, Wien 1857

Wer sein Baby ohne mit der Wimper zu zucken für mehrere Monate weg gibt, kann keine gute Bindung an das Kind haben. Die Frage ist, warum da diese Distanz war. Eine Erklärung ist, dass Frauen einfach keine Wahl hatten, zu heiraten und Kinder zu bekommen. 

Da Väter schon seit dem Biedermeier und früher aus der Kindererziehung verdrängt wurden, ist ihre ablehnende Haltung hier schon nicht mehr verwunderlich. Die Kinder sind in ihrer Rolle als Nachkomme willkommen, aber nicht als Individuen. Die Veränderungen, die das Leben mit Kindern mit sich bringt, werden als Last wahrgenommen.

Dies passierte im weiteren Verlauf auch bei den Müttern. Die Strenge und Distanz zu den Kindern, die sich immer mehr durchsetzte und in der schwarzen Pädagogik gipfelte, hätte mit einer gesunden Bindung nicht auftreten können. Nicht zuletzt, weil die schlechte Bindung als ein verstärkender Faktor für die nächste Generation wirkte. Die emotionale Distanz wurde von Generation zu Generation größer. Wo die Kinder früher noch ausgleichende Faktoren erfuhren, indem sie gute Bindungen zu anderen Familienmitgliedern aufbauen konnten, verschwanden diese Faktoren während und nach der Industrialisierung mit der Entwicklung zur Kleinfamilie.

Die meisten Eltern lieben ihre Kinder. Auch unter solchen Umständen. Die meisten Eltern wollen das Beste für ihre Kinder. Doch mit der Zeit wurde Distanz als besser angesehen als zärtliche Nähe. Der Blick auf Mutterschaft und Kind hatte sich verschoben.

"Die Aufgabe, ein Kind zu erziehen, wird von den Eltern nur selten vollkommen gelöst. Und zwar in erster Linie deswegen, weil Vater und Mutter naturgemäß ihrem eigenen Fleisch und Blut gegenüber nicht die für eine Erziehungsaufgabe nötige objektive Einstellung besitzen. Ihnen fehlt in vielen Fällen der klare Blick für die Schwächen, oft aber auch für die Vorzüge ihrer Kinder. Weiterhin wird durch den Mangel an Distanz, der sich fast immer als Folge ständigen Beisammenseins zwischen den einzelnen Familienmitgliedern entwickelt, die Autorität der Eltern gewöhnlich derart geschwächt, daß ihre Anordnungen einfach überhört und nicht befolgt werden."
Kinder- Glück und Sorge der Mutter, Dr. med. Luise von Seht, 1939

Es ist immer schwierig zu erkennen, was einem fehlt, wenn man keine Vorstellung davon hat, was sein könnte. Eine Mutter, die schon durch ein vermurxtes Wochenbett keine enge Bindung zu ihrem Kind aufbauen konnte, und der gesagt wird, dass enge Bindungen dem Kind schaden, wird diese Bindung vielleicht unbewusst vermissen, aber sie wird nicht wissen, warum. Sie macht ja nach bestem Wissen und Gewissen alles richtig. 

Niemand kann ihr beschreiben, wie sich eine gute Bindung anfühlt. Und wer es versucht, dem entgegnet sie mit Skepsis. Denn natürlich liebt sie ihr Kind. Aber Liebe und Bindung sind nicht dasselbe.