Sterben gehört zum Leben dazu. Also eigentlich. Definitiv. Irgendwann. Aber wir wollen es nicht wahrhaben. Nicht sehen.
Sterben geschieht heutzutage meistens im Krankenhaus. Die Pflege der Sterbenden überlassen wir Fachleuten. Auch wenn es erlaubt ist, zuhause zu sterben und sogar die verstorbene Person noch eine Weile zuhause zu lassen, so wird diese Option doch eher selten gewählt.
Menschen sind Menschen bis in den Tod und sie verdienen Geborgenheit und Pflege bis zuletzt. Als es noch üblich war, zuhause zu sterben und aufgebahrt zu werden, wussten die Menschen auch noch, mit dem Tod umzugehen. Es war normal, über das eigene Ableben zu sprechen und Wünsche zu äußern. Den Tod zu sehen, hilft bei der Verarbeitung und bei der Trauer. Die Berührungsängste schwinden - sowohl im übertragenen als auch im wörtlichen Sinn.
Der folgende Text ist ein Kapitel aus "Das Buch der Mütter" von Marie Susanne Kübler von 1891. Er vermittelt uns einen Eindruck davon, wie mit Sterbenden und Toten umgegangen wurde. Er zeugt von Würde und Respekt. Das Leben der Toten und der Lebenden wird geehrt.
Vierzehnter Abschnitt
Die Besorgung der Sterbenden und Toten.
Nicht jeder Kranke sieht dem Tode mit Ruhe und Ergebung ins Antlitz, und spricht er sich nicht selbst über seine Auflösung aus, so ist es wohl besser, man gönne ihm ein ahnungsloses Hinüberschlummern.
Ein anderes ist es, wenn der Mensch in ungebrochener Seelenkraft dem baldigen Scheiden mit Fassung entgegensieht und Bestimmungen für Hinterlassene und Freunde zu treffen wünscht, wenn ein gläubiges Gemüt sich nach der Religion, nach priesterlichem Beistande und Segen sehnt. Diesen Bedürfnissen trage man unbedingt und zeitig Rechnung; denn die Erfüllung solcher Wünsche trägt viel zur Beruhigung eines Sterbenden bei.
Wenn alle Bemühungen des Arztes, den Kranken dem Leben zurückzugeben, all die aufopfernde Pflege der Angehörigen fruchtlos geblieben sind und die letzten Augenblicke nahen, so schwinden oder vermindern sich meistenteils mit dem erlöschenden Leben die Schmerzen und Beschwerden der Krankheit, der Leidende wird ruhiger, scheint teilnahmloser; allmählich schwinden die Sinne und die Fittige des Todesengels beginnen ihren Schatten auf das Antlitz des Scheidenden zu werfen.
Doch ließen sich zahlreiche Beweise aufzählen, daß Sterbende selbst under dem Anscheine völliger Teilnahmslosigkeit und Fühllosigkeit noch Sinneseindrücke wahrnehmen und sich zum Bewußtsein bringen. Wie quälend müssen daher für einen solchen gewisse abergläublische Maßregeln, Sterbezeremonien, das Wehklagen und Hereinstürmen der Hinterlassenen, das Singen, Läuten und Ähnliches sein!
So unpassend, weil für den Sterbenden beängstigend, es ist, wenn zu viele Personen im Sterbezimmer anwesend sind, so müssen sich doch wenigstens zwei bis drei Personen da befinden, damit die den Kranken unmittelbar pflegende Person denselben keinen Augenblick verlassen muß, sondern den andern die zur Besorgung und Beschaffung des Notwendigen erforderliche Winke und Aufträge erteilen kann. Man sorge für äußerste Ruhe im Zimmer, schütze den Sterbenden vor grellem Lichte, es sei denn, daß er solches verlange. Man reiche ihm die erlaubten Erfrischungsmittel, und kann er nicht mehr schlingen, so befeuchte man ihm die Lippen und Zunge mit frischem Wasser, quäle ihn aber nicht mehr mit Arzneien.
In Gegenwart des Entschlummerten sind alle lauten Schmerzausbrüche zu unterdrücken, da erfahrungsgemäß beim Laien über den bereits eingetretenen Tod große Täuschungen möglich sind, es aber aufs sorgfältigste vermieden werden soll, daß die letzten Sinneseindrücke des Sterbenden schmerzliche und aufregende seien.
Wenn auch der Tod wirklich eingetreten ist, so lasse man die Leiche noch mehrere Stunden lang in demselben Bette liegen, vermeide jedes Geräusch und bespreche den Tod und die Beerdigung nicht in demselben Zimmer. Wiederbelebungsversuche durch Reizmittel verschiedener Art sind nur bei dringendem Verdachte des Scheintodes durch den Arzt anzustellen. Eine liebende Hand schließe die Augenlider des Entseelten. Die Kinnlade soll von dem die Leiche waschenden und bekleidenden Wärter behutsam hinaufgebunden werden.
Eine gewisse Pietät gönnt dem Verstorbenen selbst bei beschränktem Raume noch ein gutes Zimmer, bis er zur Erde bestattet wird. Das Verschließen des Sarges sollte nicht vor Eintritt deutlicher Fäulniszeichen geschehen. Bald nach dem Verlöschen des Lebens werden die Glieder steif; man heißt das die Totenstarre. Später erhalten sie wieder mehr Biegsamkeit, und es bilden sich am Rücken, Unterleib und endlich am ganzen Körper blaurote Flecken, die Totenflecken. Der Glanz der Augen verschwindet, die Hornhaut derselben wird trübe und faltet sich. Zuweilen ergießen sich Flüssigkeiten aus den natürlichen Körperöffnungen. Die Verwesung des toten Körpers schreitet von Tag zu Tag mehr vor und giebt sich durch eigentümlichen Leichengeruch zu erkennen.
Die meisten dieser Erscheinungen, unter welchen sich das Bild des wirklichen Todes zeigt, treten zwar selten in den ersten vierundzwanzig Stunden ein, sondern erst am zweiten oder dritten Tage und zwar in warmen Zimmern bälder als in kalten. Sie sind die sicheren Zeichen des eingetretenen Todes. Doch sollte man jedenfalls, auch wo dies nicht ausdrücklich durch das Gesetz vorgeschrieben ist, vor dem Begräbnisse den Tod durch den Arzt konstatieren lassen und allfällige Wünsche des Sterbenden, daß ihm eine Ader geöffnet oder eine Sektion vorgenommen werde, unbedingt erfüllen. Wenn nach plötzlichen Todesfällen die einen oder andern Zeichen des eingetretenen Todes zu fehlen scheinen, so ist der Arzt in Bälde davon in Kenntnis zu setzen, um die vielleicht bloß unterbrochenen Lebensverrichtungen möglichst bald wieder zu Tätigkeit zurückzuführen und das gleichsam schlummernde Leben zum Wiedererwachen bringen.
Um /Leichengeruch/ möglichst zu verdrängen, wäscht man den Leichnam von Zeit zu Zeit mit einer schwachen Chlorauflösung in Wasser oder bedeckt ihn mit Tüchern, welche mit dieser Auflösung befeuchtet werden. Dabei macht man Essig- oder Chlordämpfe im Zimmer oder stellt frisch gebrannten, noch dampfenden Kaffee darin auf, der nachher selbstverständlich weggeworfen wird.
Die Hinterlassenen sollen sich, besonders wenn der Tote an einer ansteckenden Krankheit starb, nur immer kurze Zeit im Sterbezimmer aufhalten, um nach dem Leichname von Zeit zu Zeit zu sehen. Sie haben ihre Pflichten gegen den Toten erfüllt und sind jetzt weitere den Lebenden schuldig; die Veränderungen, welche mit dem Leichname vorgehen, machen oft einen schmerzlichen Eindruck. Wer sollte auch beim Betrachten seiner verfallenen Züge nicht mit Lenau sagen:
"Ein Verrauschen, ein Verschwinden
Alles Leben! Doch von wannen,
Doch wohin, die Sterne schweigen
Und die Welle rauscht von dannen!"
Das Buch der Mütter - Eine Anleitung zu naturgemäßer und geistiger Erziehung der Kinder und zur allgemeinen Krankenpflege. Dritte, umgearbeitete und ergänzte Auflage, Marie Susanne Kübler, Verlag von Abel & Müller, Leipzig, 1891, S. 343ff