Die Monacensia der Münchener Stadtbibliothek hat zur Blogparade Frauen und Erinnerungskultur #femaleheritage aufgerufen. Dieses Thema passt perfekt zum Säuglingspflege-Blog in der Kategorie Lebenslinien. Sofort war mir klar, dass ich da mitmachen muss. Doch über wen schreibe ich? Zunächst wollte ich über eine der Frauen schreiben, deren Lebensläufe ich im Rahmen meiner Familienforschung entdeckt habe. Besonders mein diesjähriges Sommerprojekt, das Ortsfamilienbuch von Münchham, bietet da so einige interessante Personen, über die ich definitiv noch berichten werde. Doch für diese Blogparade habe ich mich letztlich entschieden, über eine der ersten promovierten Gynäkologinnen Deutschlands, Charlotte Heidenreich von Siebold, zu schreiben. Denn auch wenn Charlotte von Siebold keine Unbekannte ist, so ist sie doch viel zu wenig bekannt.
Marianne Theodore Charlotte Heiland wurde Ende des 18. Jahrhunderts in Heiligenstadt geboren; nach ihren eigenen Angaben am 10. Dezember 1791, andere Quellen nennen den 14. Oktober 1792 oder den 12. September 1788. Sie war die Tochter des Regierungsraths Georg Heiland, der starb als sie drei Jahre alt war. Ihre Mutter Regina Josepha heiratete wenige Jahre später den Chirurgen Johann Theodor Damian von Siebold, der Charlotte und ihre jüngere Schwester adoptierte.
Mutter Josepha konnte in der Arztfamilie von Siebold ihre Leidenschaft für Geburtshilfe zu ihrem Beruf machen. Bildung war den Eltern wichtig und so wuchsen Charlotte und ihre Geschwister in einem Umfeld auf, das auch ihnen viele Möglichkeiten eröffnete. 1815 erhielt Josepha von Siebold die Doktorwürde und 1817 tat Charlotte es ihr an der Uni Gießen gleich. In dem ihrer Doktoarbeit beigefügten Lebenslauf beschrieb sie ihren Werdegang so:
"So wuchs ich neben mehreren jüngeren Geschwistern bis zum 17ten Jahre, von verschiedenen Lehrern in Heiligenstadt, Worms und Darmstadt unterrichtet, heran. Hier war es, wo der Wunsch, nach dem Beispiele und im Fache meiner Aeltern der Menschheit nützlich zu seyn, lebhaft in mir rege wurde. Ich fing an meines Vaters anatomische, physiologische und geburtshülfliche Bibliothek zu benutzen, und da nach einiger Zeit meine Aeltern diese Richtung meiner Lektüre und mein ernstliches Bestreben, mich der Entbindungskunst zu widmen, erkannten, so ertheilte mir mein Vater den gewünschten Unterricht, wobei die Mutter, welche inzwischen zu Würzburg den Unterricht meines Oheims, Elias von Siebold, genossen hatte, es übernahm, mich praktisch am Phantom und nachher an der Natur auszubilden. Nach 2 Jahren glaubten meine Aeltern mich so weit gebracht zu haben, mir unbesorgt, in Abwesenheit meiner Mutter, deren Stelle als Gehülfin an meines Vaters kleiner provisorischer Entbindungsanstalt, welche zum Unterricht für Hebammen bestimmt war, überlassen zu können. Der Erfolg schien ihren Wünschen zu entsprechen und ich ging so, mit mancherlei theoretischen und praktischen Kenntnissen ausgerüstet, zu Ende 1811 nach Göttingen, hörte dort die Professoren Osiander und Langenbeck, theils in ihren Privatvorlesungen, theils in privatissimis, und repetirte bei Dr. Wunsch. Zu Ende Novembers 1812 ging ich nach Darmstadt zurück, mit dem Vorsatze, noch eine Reise nach Wien zu machen. Die damaligen Kriegsunruhen hielten mich davon ab. In dem geburtshülflichen Kreise meiner Aeltern und bei deren Unterweisung der Hebammen thatig, erhielt ich 1814, nach einer von dem Großherzogl. Medizinal-Kollegium in Darmstadt angestellten Prüfung, wie meine früber ebendaselbst geprüfte Mutter, die großherzogliche Erlaubniß, die Geburtshülfe in Darmstadt und der Umgegend ausüben zu dürfen. - leider trat der Fall ein, daß ich nun längere Zeit fast nur allein von den Meinigen mich dem Entbindungs- und Unterrichts-Geschäfte widmen konnte; indem meine thätige Mutter erst eine schwere Krankheit und dann eine lebensgefährliche Verletzung am Fuße erlitt, und mein durch seine ärztliche Praris in der Residenz, Physikatssachen und die Direktion des Medizinalkollegiums beschäftigter Vater noch außerdem durch epidemische Krankheiten der Gegend, während des Krieges, öfter abgehalten und unterbrochen wurde. Erfreute ich mich auch nachmals wieder der fast an ein Wunder gränzenden Wiederherstellung meiner trefflichen Mutter, deren stilles Verdienst die hiesige verehrte medizinische Fakultät bald darauf durch Ausfertigung eines Doktor-Diploms zu ihrer und aller der Ihrigen Freude anerkannte; so blieb mir bisher doch immer noch Vieles in dem Kreise zu thun übrig, in welchem ich meine erste geburtshülfliche Anweisung erhielt. - Es macht den theuren Aeltern Freude, auch die Tochter durch die wissenschaftliche Würde geehrt zu sehen, die sie sich erworben haben, und darum schreibe ich eben, im häuslichen Kreise einer Schwester, diese Zeilen nieder, um Einer der Forderungen der medizinischen Fakultät zu entsprechen, weil ich wünsche und hoffe, dieser Tage die Doktor-Würde in der Entbindungskunst von derselben zu erhalten.
Gießen, am 19. März 1817."
Ihre Doktorarbeit trug den Titel "Über Schwangerschaft außerhalb der Gebärmutter und über eine Bauchhöhlenschwangerschaft insbesondere". In der zweistündigen Verteidigung ihrer Doktorarbeit bewies sie mit "Ruhe und Besonnenheit" "einen solchen Umfang von gründlich wissenschafltichen Kenntnissen", "daß sie sich den allgemeinen Beifall der Sachverständigen und eines Auditoriums von Tausenden erwarb".
Einer konnte sich diesem Beifall nicht anschließen: ihr Professor Friedrich Benjamin Osiander in Göttingen. Wir wissen, dass Osiander ein arroganter misogyner Egomane war. So wundert es nicht, dass er der Kopie der Doktorarbeit, die Charlotte von Siebold ihm zukommen ließ, einen handschriftlichen Vermerk beifügte, bevor sie in die Uni-Bibliothek gegeben wurde. Dieser Vermerk lautet:
"Den 21. Sept. 1817 erhielt ich diese Schrift von m. ehemaligen Schülerin; sie giebt aber einen klaren Beweis ab, wie weit sie schon von m. Lehrsäzen abgewichen ist,- und ich kann daher nicht darauf stolzseyn, sie gebildet zu haben. Vielmehr giebt sie mir dadurch das Zeugniß, daß ich recht hatte, mich gegen den ihr zu ertheilenden Unterricht lange zu sträuben; denn ich glaubte nie, daß beim Unterricht Charakterloser Weiber und Mädchen viel Erfreuliches herauskomme. Sie sind wie ein Rohr, das der Wind hin und her wehet; und vollends zur Auctorschaft ganz verdorben. Das Schwangerwerden steht ihnen auf jeden Fall besser an, als über Schwangerschaften zu schreiben."
Non libris, pueris
gignendis
apta puella est
pariendis
fabricandis
Die lateinischen Sätze bedeuten: Das Mädchen ist nicht fähig, der Bücher (zu schreiben) über das Hervorbringen der Kinder/das Gebären der Kinder/das Machen der Kinder.
Mit dieser Meinung stand Osiander aber ziemlich alleine da. Charlotte von Siebold wurde zu einer viel gefragten, hoch angesehenen und erfahrenen Geburtshelferin. Im Gegensatz zu vielen männlichen Kollegen verstand sie die Geburtshilfe aber nicht als Karriereleiter. Der Verdienst von Hebammen und Geburtshelfer'innen richtete sich damals nach den Einkünften der Familie. Hebammen wurde bei ihrer Ausbildung eingeschärft, dass sie die Betreuung einer Geburt nicht zur Geldfrage machen und auch den Ärmsten ihren Dienst nicht verweigern dürften. Geburtshelfer taten aber genau das. Oder sie gründeten "Entbindungsanstalten", in denen die mittellosen Gebärenden als Lehrobjekte und Versuchskaninchen dienten.
Charlotte von Siebold jedoch machte keinen Unterschied zwischen den Schwangeren verschiedener Stände. Denn obwohl sie auch Geburten im Hochadel im In- und Ausland begleitete (sie half u.a. bei der Geburt der späteren Queen Victoria), blieb sie darum bestrebt, allen Gebärenden gleichermaßen eine qualitativ hochwertige Geburtshilfe zu ermöglichen. Sie praktizierte in Darmstadt, bildete Hebammen aus, unterstützte das Darmstädter Krankenhaus finanziell und materiell, und entband mittellose Schwangere kostenlos. 1845 gründete sie gar eine Einrichtung zur Geburtshilfe für arme Bürgerinnen.
1829 heiratete sie den 14 Jahre jüngeren Militärarzt August Heidenreich. Eigene Kinder hatte sie nicht. 1854 wurde ihr das Ritterkreuz durch den Großherzog von Hessen verliehen. Am 8. Juli 1859 starb Charlotte Heidenreich von Siebold in Darmstadt.
Die Frauen Darmstadts gründeten nach ihrem Tod die Heidenreich-von Sieboldsche Stiftung zur Unterstützung von armen Wöchnerinnen.
Während Männer wie Osiander, Boër, aber auch Elias von Siebold (Charlottes Onkel) bis heute weithin bekannt sind, sind wichtige Frauen wie Josepha und Charlotte von Siebold in Vergessenheit geraten. Ihr Andenken wurde von nachfolgenden Männern unterdrückt. So wurden sie beispielsweise im Grundriss der Geschichte der Medicin und des heilenden Standes, einem Buch von 1876, lediglich als Fußnote erwähnt. In Pierers Universal-Conversations-Lexikon von 1877 steht Charlotte von Siebold nur als ein Beispiel für eine höher gebildete Hebamme.
Darum ist eine Erinnerungskultur für Frauen ganz besonders wichtig. Viele Errungenschaften von Frauen sind heute gänzlich unbekannt, weil sie schlichtweg nicht überliefert wurden. Das wiederum prägt unser Bild von der Geschichte und dem Leben von Frauen zu früheren Zeiten.