Triggerwarnung: Kindesmisshandlung im Krankenhaus. Psychische Erkrankungen.
Meine gesamte Schulzeit hindurch haben Lehrer'innen mich für schüchtern gehalten. Weil ich nicht viel redete. Und der einzige Grund, warum ein Kind nicht viel redet, ist anscheinend, dass es sich nicht traut zu reden.
Hat sich eine'r von ihnen sich mal die Mühe gemacht, heraus zu finden, warum ich nicht viel rede? Nein. Hätte ich es ihnen gesagt, hätten sie mich einfach so gefragt? Auch nein. Reden war und ist anstrengend für mich. Schreiben geht viel leichter. Schriftlich war ich immer eine (sehr) gute Schülerin. Mündlich habe ich mich strategisch beteiligt, weil ich wusste, es ist wichtig für die Gesamtnote. Wenn im Mittel eine 2-3 raus kam, war mir das genug. Alles andere war zu anstrengend und die Mühe nicht wert.
Meine Kindheit war geprägt von drei Leitsätzen:
- es geht niemanden etwas an, was ich denke
- mich versteht sowieso keine'r
- ich bin gut so, wie ich bin
Den letzten Leitsatz verdanke ich meinen Eltern, die mich immer in allem unterstützt und an mich geglaubt haben. Die mir viele Freiheiten gelassen und mich nie unter Druck gesetzt haben. Die ersten beiden "verdanke" ich einem Krankenhausaufenthalt im Jahr 1976.
Als ich etwa 6 oder 8 Monate alt war, war ich im Krankenhaus wegen einer Hüftgelenksluxation (schwerste Form der Dysplasie). Damals gab es noch feste Besuchszeiten, zu denen die Eltern kommen durften, ansonsten waren Kinder alleine im Krankenhaus. Bei einem ihrer Besuche fanden meine Eltern mich ans Bett gefesselt. Für beide war das ein traumatisches Erlebnis. Das größte Trauma hatte aber ich. Seitdem schiele ich. Ich habe schlichtweg aufgehört mit dem linken Auge zu gucken. Das war eine physische Manifestation dessen, was in mir drin passiert ist. Mein Wille wurde gebrochen. Ich wurde gebrochen. Ich habe aufgegeben; habe keinen Kontakt mehr zu meiner Umwelt gesucht. Mich versteht sowieso keine'r.
Die offzielle Begründung für das Fesseln war übrigens, dass ich mit meinem Kot gespielt hätte. Ich war ein Baby. Ich konnte vielleicht gerade mal sitzen. Wenn ich Kot an den Händen gehabt habe, dann ja wohl, weil ich nicht rechtzeitig gewickelt wurde.
Obwohl ich immer von diesem Krankenhausaufenthalt wusste, ist mir erst wirklich klar geworden, was das mit mir gemacht hat, als ich selber Mutter wurde. Ich kannte mich ja nie anders. Ich kenne mich nur mit Trauma. Ich wusste nicht, dass etwas nicht stimmte und dass mein Leben anders hätte sein können. Ein Schlüsselerlebnis war für mich, als wir Eltern wenige Wochen nach der Einschulung unseres ersten Kindes eingeladen wurden, eine Schulstunde zu besuchen. Mein Kind war mir immer recht ähnlich gewesen. Eher introvertiert, beobachtete gerne, brauchte ein bißchen Zeit zum Auftauen, war gemütlich, besonnen und ruhig. Ich hatte ihm absichtlich nicht erzählt, dass man sich in der Schule melden muss. Ich wollte den Druck vermeiden, den ich dabei immer gespürt hatte, und Noten gab es in der ersten Klasse ja eh noch nicht. Bei dem Besuch rechnete ich also damit, dass mein Kind sich nicht oder nur wenig aktiv am Unterricht beteiligen würde.
Aber mein Kind beteiligte sich. Freiwillig, gerne, fröhlich und ununterbrochen. Ich bin aus allen Wolken gefallen. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich überzeugt, dass sich kein Kind im Unterricht melden würde, wenn es nicht Pflicht wäre. Mir war zwar klar, dass es den meisten meiner Mitschüler'innen damals leichter gefallen war als mir, aber dass sie es aus einer inneren Motivation heraus getan hätten, war jenseits meines Vorstellungsvermögens. Ich musste 35 Jahre alt werden, um zu lernen, dass andere Menschen eine innere Motivation haben sich mitzuteilen.
Ich habe das nicht. Jede Kommunikation ist eine bewusste Entscheidung. In kleinen Gruppen unter Freund'innen, mit Gleichgesinnten oder in der Familie kann ich stundenlang locker und ungezwungen reden. Je vertrauter mir meine Gesprächsparter'innen sind, desto leichter fällt es mir. In Gruppen ab circa sieben Personen wird es anstrengend, erst recht wenn eine Person dabei ist, mit der ich nicht warm werde. Heute weiß ich, dass das daran liegt, dass ich ständig in Alarmbereitschaft bin. Ich bin in sozialen Zusammenkünften so beschäftigt damit, meine Umwelt und Mitmenschen zu scannen und zu analysieren, dass ich mitunter keine Kapazitäten mehr fürs Reden frei habe. Reden ist anstrengend, weil ich es aktiv tun muss. Das Scannen und Analysieren passiert ohne mein Zutun.
Lange Zeit dachte ich, ich sei einfach nur introvertiert. Heute weiß ich, dass ich unter PTSD leide. Aus den "fight flight freeze friend flop"-Reaktionsmustern bin ich der flop-Typ. Meine Reaktion, wenn ich getriggert werde, ist "bloß nicht (negativ) auffallen". Oftmals kann ich in Konfliktsituationen, wenn ich getriggert werde, nur noch "ja, okay" sagen oder tun, was man mir sagt. Heute, da ich das weiß, erkenne ich im Nachhinein viele Situationen, in denen ich getriggert wurde.
Zum Beispiel als ich nach meinem Kaiserschnitt im Krankenhaus war und die Schwestern im typischen Schwesternton zu mir sagten "wir machen jetzt dies und das". "Ja, okay", war meine Antwort. Innerlich war ich gelähmt. Ich konnte nicht anders reagieren. Glücklicherweise hatten mein Mann und ich vor dem Kaiserschnitt genau besprochen, was wir wollten und was nicht, so dass mein Mann mich sanft fragte "aber das wollten wir doch nicht, oder?" Erst dadurch konnte ich sagen, "Nein, das will ich nicht." Aber nur zu ihm. Die Kommunikation mit dem Klinikpersonal hat er für mich übernommen. Ich bin unendlich dankbar, dass mein Mann die gesamte Zeit im Krankenhaus bei mir war und mir geholfen hat. Ohne ihn hätte ich nicht stillen können, dafür hätten die Schwestern schon gesorgt.
Damals dachte ich, ich sei vom verabscheuten Kaiserschnitt so neben der Spur gewesen. Heute weiß ich, der Krankenhausaufenthalt und der Umgang des Personals mit mir haben mich getriggert.
Mittlerweile weiß ich auch, welche Situationen mich besonders leicht triggern. Telefonieren zum Beispiel. Früher dachte ich nur, ich mag Telefonieren einfach nicht und mit etwas Übung wird mir das schon leichter fallen. Aber schon als junge Erwachsene wurde mir klar: keine Übung der Welt wird mich je dazu bringen, dass mir Telefonieren nichts ausmacht. Telefonieren bedeutet für mich einen Kontrollverlust. Nicht sehen zu können, triggert mich. Mir fehlen wichtige Informationen, um mein Gegenüber ausreichend analysieren zu können. Für Telefonate brauche ich idealerweise mehrere Tage mentale Vorbereitung.
Die komplette Kontrolle über mich und meine Sinne zu haben, ist essentiell wichtig für mich. Das ist nebenbei gesagt mit ein Grund, warum ich nie ein Interesse an Drogen hatte, und sei es "nur" Alkohol.
Meine Eltern sind übrigens die einzigen Menschen, bei denen ich diese Themen ansprechen kann. Bei anderen geht das nicht. Ich kann das Gespräch über mich nicht beginnen. Wenn ich darauf angesprochen werde, ist das wieder was anderes. Überhaupt ist Reden für mich einfacher, wenn ich angesprochen werde, als wenn ich den Anfang machen muss.
Bei einem unserer Gespräche hat meine Mutter mir mal erzählt, dass Schielen eine bekannte Folge von Krankenhausaufenthalten gewesen sei. (Sie hat selber Krankenschwester gelernt, aber nie als solche gearbeitet.) Ich frage mich, wie viele Mitmenschen heute ein Trauma haben, ohne überhaupt davon zu wissen.
Dieses Mädchen auf dem Foto ist nicht schüchtern. Sie traut sich, Dinge zu sagen, die andere nicht aussprechen. Sie ist direkt und offen. In der richtigen Umgebung. Sie ist nachdenklich, wissbegierig und beobachtet viel. Mit sieben Jahren wird sie sich das erste Mal wünschen, dass sie nie geboren wäre, weil sie denkt, dass das Leben nichts anderes zu bieten habe, als Dinge abzuwarten und auszusitzen. Sie wird denken, dass etwas an einer Situation zu ändern ein Zeichen von Schwäche sei. Auf dem Gymnasium wird sie denken, dass ein Schulwechsel bedeute, dass die Mobber gewinnen würden. Aushalten, durchhalten, abwarten. Aber nichts sagen, denn es versteht sie eh keine'r. Alle denken nur, sie sei schüchtern. Weil sie nicht viel redet. Was für ein Teufelskreis.
Hätte ich nicht so großartige Eltern gehabt, bei denen ich mich absolut sicher und geborgen gefühlt habe und fühle, wer weiß, was aus mir geworden wäre. Auf meine Eltern konnte ich mich immer verlassen. Ich musste nie Angst vor Strafe haben. Ich konnte immer alles ansprechen und wurde gehört. Meine Bedürfnisse waren meinen Eltern immer wichtig. Auch wenn das Etikett "bedürfnisorientierte Erziehung" ein neues ist, so passt es doch dazu, wie ich groß geworden bin.
Mein Name ist Karin Bergstermann. Ich bin das Mädchen auf dem Foto. Ich leide unter einem frühkindlichen Trauma, das mir viele Steine in den Weg gelegt und mich anfällig für Depressionen gemacht hat. Bedürfnisorientierte Erziehung hat mich gerettet.
Was hat man Dir angetan? Worunter leidest Du? Was möchtest Du über mich wissen? Schreib mir hier* und ich werde Dir antworten.
*Link zu diesem Artikel bei Patreon. Dort gibt es eine Kommentarfunktion.
Weitere Beiträge der Reihe "Kinder im Krankenhaus"
Elternbegleitung im Kinderkrankenhaus
Forschung zu den Folgen von Krankenhausaufenthalten für Kinder
Erfahrungsberichte aus Kinderkrankenhäusern