Es ist eine Sache, was in Erziehungsratgebern gefordert wird. Es ist eine andere Sache, ob und wie Eltern diese Forderungen umsetzen. Zwischen den Zeilen lassen uns so manche Erziehungsratgeber aber auch das wissen.

Früher fiel die Aufgabe der Kinderpflege und -erziehung fast ausschließlich an Mütter und diese zogen ihre Kinder meist ähnlich groß, wie sie selber groß geworden sind. Der Einfluss der Erziehungsratgeber stieg zwar mit der Zeit, aber er stieg zunächst sehr langsam. Mütter folgten lieber ihren Instinkten.

"Es ist eine schädliche Gewohnheit vieler Mütter, dem Kinde zu jeder Zeit, und überall wenn es schreiet die Brust zu geben."

Taschenbuch für Mütter, Adolph Henke, 1832

Aber nicht nur das Stillen, auch das Beruhigen und Tragen machten die Mütter intuitiv.

"Beinahe alle Mütter und alle Wärterinnen, mit sehr wenigen Ausnahmen, begehen den sehr großen, bereits oben gerügten Fehler, daß sie das Kind gleich von den ersten Tagen seines Lebens an bei dem geringsten Laut, den es ausstößt, oder bei der geringsten Unruhe, welche es zeigt, von seinem Lager aufheben, und durch Schaukeln und Umhertragen auf den Armen beruhigen zu müssen glauben."

Die ersten Mutterpflichten und die erste Kinderpflege, Dr. Friedrich August von Ammon, 6. Auflage, 1854

Dieser "Fehler" war den Müttern wirklich nur schwer auszutreiben.

"Um den Säugling rechtzeitig an Ordnung zu gewöhnen, muß in der Pflege eine strenge Regelmäßigkeit beobachtet werden. Diese Forderung betrifft vor allem die Mahlzeiten, die stets zur selben Zeit gereicht werden sollen. Das Maß der Ernährung, das Aufnehmen auf den Arm usf. sind Maßnahmen, die von der Mutter oder Pflegerin bestimmt werden. Das Kind hat sich mit seinen Wünschen unterzuordnen. Es bietet oft Schwierigkeiten, eine Mutter von dieser Grundregel zu überzeugen."

Der Säugling, Otto Köhler, 1921

Kleine Babys waren die meiste Zeit - tags wie nachts - nah bei der Mutter.

In der ersten Zeit nach der Niederkunft pflegt jedes Kind denselben Aufenthalt mit der Mutter in der Wochenstube zu theilen. Mütter, welche selbst stillen, behalten meistens die Kinder, bis zur Zeit der Entwöhnung, um sich, in ihrem Wohnzimmer. Späterhin machen die Verhältnisse, besonders wo mehrere Kinder vorhanden sind, den Aufenthalt derselben in einem eignen Zimmer nothwendig.

Taschenbuch für Mütter, Adolph Henke, 1832

Viele Frauen, die sich um kleine Kinder kümmern, haben diese gern getragen.

"So sehr es wünschenswerth ist, daß der Kinderwagen den Kindermantel der Wärterin ersetze, so giebt es doch noch vorurtheilsstarre oder zu nachsichtige Mütter, welche den Mantel, dieses Kleidungsstück, welches viele Krüppel aus sich hervorgehen ließ, noch dulden, namentlich weil Wärterinnen nicht gern mit dem Wagen ausgehen; jüngere können mit diesem Fuhrwerke nicht überall hinschlüpfen, wo sie nicht hin sollten, in dumpfe Stuben ihrer Bekannten und Verwandten, auf Plätze des Stelldichein; ältere Wärterinnen halten es unter ihrer Würde, 'in der Karre zu fahren', und stolziren lieber im Mantel mit langem Behänge umher, um ihr Kind zu repräsentiren und sich dem Publikum zu empfehlen."

Die Mutter als Erzieherin, Hermann Klencke, 1875

Ob nun der Wille der Mutter oder Pflegerin oder der Preis des Kinderwagens, Kinder wurden lange Zeit bei uns getragen.

Viele Mütter müssen wegen des hohen Preises auf den Kinderwagen verzichten und sind gezwungen, das Kind auszutragen, was mit Unbequemlichkeiten verbunden ist.

Neues Schul-Lehrbuch der Säuglingspflege für Mädchenschulen, Dr. R. Hecker, B. Wörner, A. Mantel, 1941

Wenn das Kind im Hause nicht getragen wurde, so war es dank Stubenwagen immer mit dabei.

"Da der Korbwagen eine häufige Ortsveränderung im Zimmer möglich macht, so kann man das Kind im wachen Zustande immer um sich haben, und dieses fühlt sich (...) in Gesellschaft seiner Mutter, Geschwister oder Bekannten so behaglich, daß es sich oft stundenlang ruhig verhält, besonders wenn es Abwechslung bisweilen hin- und hergefahren wird."

Das Buch der Mütter, Marie Susanne Kübler, 1891

Ein Kind, dessen Bedürfnisse ignoriert werden, schreit zunächst viel mehr, bis es dann letztlich aufgibt. Das Schreien von vornherein zu vermeiden, ist keine Option in einer Welt, die Unterordnung groß schreibt. Die Haltung gegenüber intuitiv handelnden Müttern wurde daher geradezu feindselig.

"27. Darf ich das Kind längere Zeit schreien lassen?

Wenn gewissenhafte Prüfung Langeweile infolge Verwöhnung ergibt, ruhig ausschreien lassen, falls nicht Hausherr oder Nachbar protestieren (z.B. nachts).
Verwöhnung durch Schaukeln und Insbettnehmen von sehr ungünstiger erzieherischer Wirkung, daher wenn irgend möglich vermeiden!

Verwöhnungsschreien weist deutlich auf grundsätzliche fehlerhafte erzieherische Haltung der Mutter hin. Höchste Gefahr für grundlegende Charakterbildung im Verzug! Pädagogischen Rat einholen!"

Moderne Kinderpflege - Von Säugling bis zum Schulkind, Verhütung und naturgemäße Behandlung von Krankheiten im Kindesalter, Dr. med. Gerhard Ockel, ca.1930

Dass Mütter sich dermaßen gegen die tollen, neuen Erkenntnisse und Regeln in der Kindererziehung sträubten, und sich einfach darüber hinweg setzten, musste das zerbrechliche Gelehrten-Ego erst mal verdauen.

Die ersten Menschenmütter in ihren Felsen und Wäldern sorgten wohl wie die Tiere nur nach ihrem angeborenen Instinkt für ihre Jungen, lehrten sie wie die Tiere den schweren Kampf ums Dasein führen und - säugten sie wie die Tiere, aber je höher das Menschengeschlecht sich entwickelte, desto höher stieg auch die Zahl der Gefahren sowie auch ihre Größe und Fruchtbarkeit.

Da kam die Wissenschaft den Müttern zu Hilfe und lehrte sie, wie sie ihre Kinder vor den Gefahren behüten könnten. Aber die Mütter fuhren unentwegt fort, ihre Kinder nach den alten vererbten Rezepten aufzuziehen, und kümmerten sich nicht um die neuen und fremden Ratschläge. Die Vernunft ist ja immer ein Aschenbrödel gewesen, besonders aber wenn die Wissenschaft ihre Mutter war. Wohl hat sie hie und da den Weg zu einer Mutter gefunden, aber die klugen Anleitungen, die sie mitbrachte, wurden von diesen meist wohlhabenden und daher über viel freie Zeit verfügenden Frauen derart übertrieben, daß sie dadurch in Mißkredit gerieten und nirgends Anklang finden konnten.

Vernünftige und unvernünftige Mütter, Dr. Heinrich Keller, 1917

Aber selbst zu Zeiten der schwarzen Pädagogik haben sich Mütter - Eltern - nie komplett den Forderungen der Obrigkeit unterworfen. Und je gefestigter sie in ihren Ansichten waren, desto weniger ließen sie sich rein reden.

"Der ungünstige Einfluß, welchen Großmütter oder alte Eltern auf Säuglinge und nicht selten auch jüngere Eltern auf den Erstgeborenen ausüben, beruht darauf, daß sie die Kinder nicht erziehen, sondern sich selbst vollständig den Launen und Wünschen der Kinder unterziehen. Sie stehen auf dem Standpunkt, daß es ihre vornehmste Aufgabe ist, dem Kinde jeden Wunsch an den Augen abzusehen und denselben so schnell als möglich zu erfüllen und überdies noch alles zu tun, was ihnen für das Kind angenehm erscheint."

Der Arzt als Erzieher des Kindes, Prof. Adalbert Czerny, 11. Auflage, 1946