Das Bild von der Amme ist geprägt von Missverständnissen und romantischer Verklärung. Heute wollen wir mal ein bisschen damit aufräumen. Da sich der Säuglingspflege-Blog mit der Zeit ab Ende des 18. Jhdt beschäftigt, wollen wir uns auch in dieser Frage auf diese Zeit konzentieren.

1. Ammen gab es, bevor es Ersatznahrung gab.

Jein. Berichte über erste Versuche, Kinder ohne Menschenmilch groß zu ziehen, stammen aus dem 15. Jahrhundert und das Ammenwesen ist so alt wie die Menschheit. Mehrere Jahrhunderte lang aber gab es beides parallel. Die Entwicklung der Ersatzmilch wurde zunächst empirisch betrieben - Versuch und Irrtum. Erst ab dem 18. Jhdt fing man an, die Sache einigermaßen wissenschaftlich anzugehen. Doch ohne Ernährung an der Brust starb ein Großteil der Kinder.

Das Ammenwesen entwickelte sich derweil -zumindest im deutschsprachigen Gebiet- zu einem Berufsstand.

2. Wenn eine Mutter nicht stillen konnte, bekam das Kind eine Amme.

Ganz so einfach war das nicht. Eine Amme musste man sich erst mal leisten können

3. Waisenkinder wurden von Tanten und Cousinen gestillt

Das mag mitunter vorgekommen sein, aber diese Frauen wurden nicht als Ammen betrachtet. Waisenkinder wurden in erster Linie mit Ersatz großgezogen.

4. Ammen stillten die Kinder anderer Frauen aus Gutmütigkeit

Nein, Ammen wollten mit ihrer Tätigkeit Geld verdienen. Sie mussten es auch, denn meistens waren sie ledige Mütter und hatten sonst kaum eine Verdienstmöglichkeit.

Die meisten Ammen arbeiteten im Privathaushalt. Es gab aber auch welche, die in Krankenhäusern oder Säuglingsheimen tätig waren. Es gab sogar Berufskleidung für diese Ammen.

5. Das Kind der Amme war meist gestorben

Im Gegenteil. Es war wichtig, dass die angehende Amme gerade stillte. Sonst hätte sie für den Dienst relaktieren müssen. Außerdem war der Gesundheitszustand ihres Kindes Zeugnis ihrer Stillfähigkeit. Niemand will sich eine Amme ins Haus holen und dann feststellen, dass sie nicht genug Milch hat.

6. Ammen stillten mehrere Kinder gleichzeitig

Das stimmt nur für die wenigen Ammen, die nicht im Privathaushalt tätig waren. Auch das eigene Kind durfte die Amme meist nach Antritt ihrer Stelle nicht mehr stillen und musste es in Pflege geben, wo es mit minderwertigem Ersatz großgezogen wurde. In der Folge starben dann viele der Ammenkinder.

7. Als noch alle Frauen stillten, war es leicht eine Amme zu finden.

Zum einen gab es Gegenden, in denen schon zu Beginn des 19. Jhdt so gut wie gar nicht mehr gestillt wurde. Zum anderen gab es nicht viele Frauen, die Amme werden wollten. Ammen wurden häufig durch Hebammen oder Ärzte vermittelt. Später gab es sogar Agenturen dafür, sogenannte Ammenvermittlungsstellen.

8. Jede laktierende Frau konnte Amme werden

Es gab mitunter strenge Regeln dafür, welche Frau Amme werden konnte. Lange Zeit galt die Forderung, dass das Kind der Amme höchstens 6 bis 8 Wochen älter sein dürfe, als das Kind ihrer Arbeitgeber'in, sonst sei ihre Milch ungeeignet. Ärzte erfanden die abstrusesten Untersuchungen, ob eine Frau sich zur Amme eigne. Es war zwar sinnvoll, sie auf ansteckende Krankheiten zu untersuchen, aber auch die Haarfarbe oder das Aussehen der Milch wurden beurteilt.

9. Ammen waren normales Dienstpersonal

Nein, innerhalb des Dienstpersonals gab es eine Hierarchie. Die Amme stand darin recht weit oben. Ihre Arbeit war essentiell wichtig, da von ihr die Gesundheit des Kindes abhing. Sie konnte nicht so einfach ersetzt werden, wie z.B. ein Dienstmädchen. Das spiegelte sich auch in ihrem Gehalt wider.

Auf der anderen Seite gab ihr das auch eine gewisse Machtposition gegenüber ihren Arbeitgebern. Junge Mütter, die eine Amme suchten, wurden von den Ratgebern gewarnt, sich nicht von der Amme schikanieren zu lassen. Die Amme müsse ständig überwacht werden, schreibt Pescatore.

"Jede Mutter bedenke, daß eine Amme mindestens ebensoviel, meist aber viel mehr Last macht, wie das Selbststillen. Sie muß ständig überwacht werden in sittlicher Beziehung (Schatz, Schwangerschaft, Ansteckung). Man muß achtgeben, daß sie das Kind nicht mit ins Bett nimmt (Erdrückung im Schlaf), daß sie ihm keine andere Nahrung zusteckt, um den eigenen Milchmangel zu verdecken usw."

Pflege und Ernährung des Säuglings - Ein Leitfaden für Pflegerinnen, Dr. M. Pescatore, 1906

10. Ammen kamen aus allen Ständen

Glauben wir den Pflegeratgebern, so kamen die meisten Ammen aus den unteren Schichten. Das ist auch nicht verwunderlich. Verheiratete Frauen hatten ihre eigenen Kinder und ihren eigenen Haushalt zu versorgen. Ledige Mütter hatten bei den Bauern und in höheren Ständen meist Rückhalt von der Familie. Aber ledige Mütter aus den unteren Schichten hatten keine Existenzsicherung.

Es hat aber auch Frauen gegeben, die absichtlich mehrmals unehelich schwanger wurden, um dann als Amme Geld zu verdienen. Es gab ja sowieso kaum Erwerbsmöglichkeiten für Frauen und so konnten sie -zumindest zeitweise- auf ihren eigenen Beinen stehen. Mit etwas Glück wurden sie nach der Stillzeit als Kinderpflegerin im Haushalt weiter beschäftigt.