Die meisten Ammen im 19. und frühen 20. Jahrhundert in Deutschland waren Angestellte in einem Privathaushalt. Sie kamen meist aus den niederen Ständen. Ihre Lebensumstände waren schwierig, da sie meist ledige Mütter waren. Die Herrschaften nahmen das Kind der Amme meist nicht mit in den Haushalt auf, daher wurde es von anderen Verwandten versorgt oder in Pflege gegeben. Man war der Meinung, dass die Milch der Amme nur zu dem zu stillenden Kind passte, wenn ihr eigenes höchstens sechs Wochen älter war, als das ihr anvertraute. Dementsprechend musste das Ammenkind seiner Mutter entbehren während es selbst noch von der Muttermilch abhängig war. Das Ammenkind wurde daher mit minderwertigem Ersatz ernährt. Die Folgen waren entsprechend verheerend.
Kann oder darf eine Mutter nicht selbst ihr Kind stillen, so ist die Ernährung desselben durch eine Amme wol das beste Ersatzmittel. Viel zu leichtsinnig denkt man aber jetzt über diesen wichtigen Punkt, und leider ist die Ernährung der neugebornen Kinder durch Ammen wieder zu allgemein geworden. Mütter, die fähig sind, ihre Kinder an ihrer Brust zu nähren, ziehen es vor, eine Amme zu halten, und bedenken nicht, daß dem Kinde der Amme die Nahrung, welche ihr Kind jetzt nimmt, bestimmt war, daß jenes von seiner Mutter, die es jetzt nicht entbehren kann, aber entbehren muß, verlassen, nicht selten dem nahen Tode entgegengeht.
"Die ersten Mutterpflichten und die erste Kindespflege", Friedrich von Ammon, 1854
Sie bedenken aber vor allem nicht, daß sie in den meisten Fällen das Ammenkind selbst ruinieren, indem sie ihm die Quelle seiner Gesundheit rauben, die Brust der Mutter, welch letztere aus Not gezwungen ist, sich und vielleicht auch die Gesundheit und das Leben ihres eigenen Kindes zu verkaufen. Und vielleicht liebt sie ihr Kind, wenn es auch in Schande geboren sein mag, mehr als die Mutter, deren Kind sie nähren soll und sich selbst dem Kinde gegenüber so lieblos zeigt, daß sie ihm, obwohl die Fähigkeit dazu besteht, das Stillen an ihrer eigenen Brust versagt.
Sehen wir uns doch einmal um in der großen Zahl der Ammenkinder, die unter dem harten Zwange der Verhältnisse von ihrer Mutter in fremde Pflege gegeben werden müssen! Was ist ihr Los in einem so großen Teil der Fälle? Siechtum, Krankheit und Elend, bis vielleicht der Tod sich ihrer erbarmt. Und warum das? Weil ihnen die Mutterbrust und die Mutterliebe fehlt, die diesen Armen geraubt werden durch den Leichtsinn, die Herzlosigkeit der Frauen wiederum, die glauben für Geld alles haben zu können und sich damit auch darüber hinwegtäuschen, was sie ihrem eigenen Kinde durch Gewährung der Mutterbrust vorenthalten."Der Säugling - seine Ernährung und seine Pflege", Walther Kaupe, 1907
Die Ernährung durch die Amme hat nun einige sehr unangenehme Seiten. Erstens ist es das Schicksal des Ammenkindes, nun die Mutterbrust entbehren zu müssen und so leicht in Gefahr zu kommen. Die Forderung der Oberwarts, der Leiter der Berliner Wöchnerinnenunterkunft, daß auch das Ammenkind im Haushalte aufgenommen werden solle, ist schwer erfüllbar, denn es wird wenige so hochherzige Menschen geben, die sich mit dem Einzug von zwei schreienden Mitbürgern in ihr vorher so ruhiges Heim zufrieden erklären. Daß dann auch noch immer die Mutter Angst hat, die Amme könnte ihr eigenes Kind bevorzugen und besser pflegen, ist klar.
"Ich und mein Mütterlein", Dr.med. Paul Croner, 1915
In Deutschland werden jährlich rund 180.000 uneheliche Kinder geboren, as ist nahezu ein Zehntel aller Geburten. (In Sachsen, Hamburg und Bayerhn 12,5%, in Braunschweig 10%, Würtemmberg 8.9%, Preußen 7%, Reich 8,3%) (...)
Die Sterblichkeit der unehelichen ist doppelt so hoch als die der ehelichen Kinder. 1903 starben 19,3% eheliche Säuglinge und 32,7% uneheliche; in Preußen gar 36,2%, in Bayern 36,6%, in Sachsen 38%. 1896 starben in Berlin noch 47% der in Anstalten untergebrachten unehelichen Säuglinge, in Neu-Weißensee gar 78% und in Groß-Lichterfelde 80%."Die sozialen Ursachen der Säuglingssterblichkeit", Gustav Temme, 1908
Erschreckende Zahlen.
Versetzt Euch einmal in eine Amme hinein. Was geht in ihr wohl vor, wenn sie ihr eigenes Kind verlassen und ein anderes stillen muss?