Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da. Die Idee, der Mensch müsse nachts durchschlafen, ist noch gar nicht so alt. Es war bis ins späte 19. Jahrhundert durchaus üblich, die Nacht in zwei Schlafphasen einzuteilen - den ersten und den zweiten Schlaf. Letzterer wurde auch "Morgenschlaf" genannt. Der erste Schlaf dauerte meist 5-6 Stunden und der zweite 2-3, wobei im Winter eine Stunde länger geschlafen wurde als im Sommer. Wir wissen davon aber nur durch beiläufige Erwähnungen.

Leider sind Dinge, die extrem verbreitet sind, meist keine Erwähnung wert. Selbst in Erziehungsratgebern, die ja früher dazu dienen sollten, den Eltern eine Anleitung für die "richtige Gewöhnung" ihrer Kinder zu geben, wird nicht vom ersten und zweiten Schlaf gesprochen. Das mag daran liegen, dass das einmalige nächtliche Aufwachen von allein geschieht und nicht antrainiert oder beigebracht werden muss. Selbst, wenn von "durchschlafen" die Rede ist, können wir nicht sicher sein, ob damit vielleicht nur der erste Schlaf gemeint war. Sicherheit in diesem Sinne kann nur die Angabe von Uhrzeiten geben und diese finden wir erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts als der 8-stündige Nachschlaf ohne Unterbrechung bereits als normal galt.

Es ist sehr selten, dass die übliche Art zu schlafen so genau beschrieben wird, wie in folgendem Beispiel.

„Wenn wir jedoch auf solche Weise die gewöhnliche Dauer des täglichen, gesunden Schlafes zu sieben oder aufs höchste zu acht Stunden ansetzen, dürfen wir nicht übersehen, daß hiervon fünf Siebentheile oder Stunden dem eigentlichen Nachtschlaf, zwei etwa dem Morgenschlaf angehören. Jener scheint ganz besonders dazu bestimmt zu seyn, das Fleisch, dieser das Gehirn und die Sinnen für das neue Tagesgeschäft zu bekräftigen. Wir fühlen uns daher zu den Anstrengungen der Muskeln besser durch den Vormitternachtsschlaf, zu jenen der Sinnen und des Gehirns besser durch den Morgenschlaf gestärkt, und der Mangel des letztern wird von Solchen, deren Tagesgeschäft eine angestrengte Thätigkeit des Hirnes oder der Sinnen fordert, empfindlicher gefühlt als der des ersteren.“
Die Geschichte der Seele. 4. Auflage, 1. Band, Dr. Gotthilf Heinrich von Schubert, 1850, S.349

As nächstes sehen wir einige Beispiele für die Erwähnung zweier Schlafphasen, die von einer Wachphase unterbrochen werden. Es wird deutlich, dass dies keineswegs als Schlafstörung, sondern als Normalität angesehen wurde.

In einem Leserbrief an eine Zeitschrift für Tierhalter*innen beschreibt jemand seine nächtlichen Tätigkeiten.

„Da mein erster Schlaf nur bis 1 Uhr dauert, so mache ich Licht und brenne die Lampe mit Schirm bis gegen 4 Uhr. Ich lese und da ausser der Manipulation des Anzündens der Lampe weiter kein Geräusch gemacht wird, so höre ich ganz deutlich das Wenden der Eier, die wahrscheinlich ursprünglich auf Sand, jetzt aber auf dem Käfigboden ruhen werden.“
Der zoologische Garten, Zeitschrift für Beobachtung, Pflege und Zucht der Thiere, VI. Jahrgang, 1865, S. 435

Auch in Geschichten wurde das nächtliche Aufwachen integriert.

„Perisadeh war eben aus dem ersten Schlaf erwacht, als der zurück gekommene Danischmend seinen gewohnten Platz an ihrer Seite einnahm. Da er kein Geheimniss vor ihr hatte, weil er nichts ohne ihren Rath unternahm, so entdeckte er ihr, was bey dieser nächtlichen Zusammenkunft zwischen ihm und dem Sultan verhandelt worden war, und den Auftrag, womit er sich von Seiner Hoheit habe beladen lassen.“
Geschichte des Weisen Danischmend, in: C. M. Wielands sämmtliche Werke, 8. Band, 1795, S. 272

Dass Masturbation ein großes Pfui-Ba war, ist weitgehend bekannt. In diesem Buch werden Tipps gegen diese "Angewohnheit" gegeben und einer davon ist, auf den Morgenschlaf zu verzichten.

„Was den Schlaf des Onanisten betrifft, so soll derselbe nicht länger dauern als höchstens 6-7 Stunden, denn desto weniger zu schlafen man sich gewöhnt, desto erquickender ist der Schlaf. Dann sorge man für eine reine Luft im Schlafzimmer, damit nicht die durch Ausdünstungen verdorbene Luft noch mehr schwächend auf den schon Geschwächten einwirke.
Sobald der Onanist des Morgens zum erstenmale erwacht, stehe er sofort auf, denn der zweite Schlaf ist nie so fest als der erste, die Seele fängt schon an, thätig zu werden und die Phantasie beginnt sich verschiedene Bilder auszumalen.“
Steinbacher's Naturheilverfahren, III. Band, Die männliche Impotenz und deren radikale Heilung durch ein rationell-combinirtes Naturheilverfahren, Dr. med. Josef Steinbacher, 1877, S. 118

Mir kommt da ein Gedanke. Verdanken wir die Abschaffung des zweiten Schlafes Männern und ihrer Angst vor Impotenz?

„Nun noch diese Erinnerung wegen des Schlafes. So wie Sie früh erwachen, müssen Sie auch gleich aufstehn. Der zweite Schlaf macht Sie müder und träger, und hat denn das Böse, daß so leicht in dieser Zeit Pollutionen erfolgen. Sie werden auch in dem zweiten Schlafe selbst es bemerken, daß Sie dann oft mit Erection erwachen. Befolgen Sie diesen Rath treulich, und wenn Sie auch nur vier Stunden geschlafen hätten. Es kömmt bei dem Schlafe nicht so wohl auf die lange Zeit an, die man schläft: sondern ob der Schlaf fest und erquickend ward.“
Wie kann man das verlohrene oder verminderte männliche Vermögen wieder erhalten und stärken? Ein Noth- und Hülfsbüchlein für alle, welche in der Liebe oder durch Selbstbefleckung ausgeschweifet haben. Samuel Gotthelf Crusius, 1802, S. 94

Dr. Troels Lund erzählt uns, dass im 16. Jahrhundert in Skandinavien im Familienbett geschlafen wurde. (Nackt! Skandalös!) Aufgrund einer Bemerkung eines anderen Autors hält er es für plausibel, dass die gesamte Familie sich des Nacht gleichzeitig umgedreht hat. Offensichtlich hatte er keine persönlichen Erfahrungen mit dem Familienbett.

"Dürfte man in dem Rathe, den Heinrich Ranzau seinen Söhnen ertheilte, die erste Hälfte der Nacht auf der rechten Seite, die zweite Hälfte auf der linken zu liegen 545), den Ausdruck eines allgemeiner geltenden Herkommens finden, so wäre vielleicht daraus zu schliessen, dass in einer wohlgeordneten häuslichen Gemeinschft mitten in der Nacht, auf ein gegebenes Zeichen, eine Schwenkung auf der ganzen Linie stattgefunden habe."
Das tägliche Leben in Skandinavien während des sechzehnten Jahrhunderts, Dr. Troels Lund, 1882, S.172

"545. „Erst muss man damit anfangen, dass man auf der rechten Seite liegt, so haben die Aerzte gesagt; der zweite Schlaf muss auf der linken Seite geschehen, und in dieser Lage der Schlaf zu Ende gebracht werden.“ S. Henr. Ranzau, De conservanda valetudine, p. 52"
Das tägliche Leben in Skandinavien während des sechzehnten Jahrhunderts, Dr. Troels Lund, 1882, S.431

Im folgenden Beispiel haben wir einen Autoren, der sich für frühes Austehen ausspricht. Lange in den Tag hineinzuschlafen, mache träge. Er gesteht aber ein, dass dies vielen Menschen schwer fällt und diese dann gerne mittags nochmal einschlafen. Der Text ist ein wenig schwer zu lesen. Ich vermute vor allem, dass das Komma vor "erschwert" eigentlich dahinter gehört. Im Prinzip sagt der Autor, dass wir tagsüber durchpowern sollen, um abends um 9 totmüde ins Bett zu fallen, dann nach 7-8 Stunden wieder aufzustehen. Angeblich sei diese Art zu schlafen erholsamer als jede andere. Ich wage das zu bezweifeln.

„Des Mittags auf Sessel oder Sopha einschlafen ist nachtheilig, bei solchen ist gewöhnlich das Wiedererwachen oder Munterwerden nach Mitternacht, erschwert auch das Einschlafen des Abends, um dieses besser zu bewerkstelligen, und leichter einschlafen zu können, hat man sich schon vielerlei Mittel beholfen, einige haben dieß probirt durch Lesen, Rauchen oder Schreiben um eher einzuschlummern, beim Erwachen in der Nacht durch Aufstehen und kleiner Beschäftigungen, es hat allerdings dazu geholfen, um das wieder Einschlafen gleich nachher zu erzwecken, allein dieser zweite Schlaf ist gerade was dem guten Schlaf Abbruch thut, man schläft alsdann zu lange in den Tag hinein, ohne manchmal selbst zu wollen, daher entsteht Mißstimmen und Uebellaunigkeit, man hat sich verschlafen, besser ist es wenn man von Geschäften Abends ermüdet zeitlich zu Bette so täglich fortfahren, man macht alsdann einen guten Schlaf, man schläft durch, angenommen von 9 Uhr Abends bis 4 und 5 Uhr Morgens ohne zu erwachen, dann findet man sich gestärkt und kräftig beim Erwachen.“
Der Freund des Landmannes. Ein Volksbuch. Daniel Muralt, 1836, S. 234

Wie es aussieht, waren Menschen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend frei darin, wie sie ihren Nachtschlaf gestalteten. Klare ärztliche Anweisungen gab es nicht, höchstens Ideen einzelner. Allerdings zwang die Industrialisierung mit ihren langen Arbeitszeiten die Menschen tagsüber durchzupowern, wie schon Muralt es als ideal ansah. Je mehr Aufmerksamkeit der "geregelte Tagesablauf" bekam, desto geregelter -und regulierter- wurde auch die Nacht.