Der Dozent der Kinderheilkunde an der Universität zu Bern Dr. med. Hermann Albrecht, hielt dort im Februar 1879 einen öffentlichen Vortrag über die Ernährung nicht gestillter Säuglinge. Dieser Vortrag wurde die Vorlage für sein Büchlein Wie ernährt man ein Neugebornes Kind?, welches er als "unentbehrlichen Wegweiser für Mütter aller Stände, welche gezwungen sind, ihre Kinder ohne Muttermilch großzuziehen," bezeichnete. Darin beschreibt das Kapitel Was lehrt die Mütter die Statistik? eindrücklich die Folgen des Nichtstillens. 

Dr. Albrecht beginnt das Kapitel mit einer uns längst bekannten Begebenheit.

Während der Belagerung von Paris 1870 bis 1871 starben in dieser Weltstadt weniger kleine Kinder als vor derselben und zwar nur 17% gegenüber 33%, weil die Mütter gezwungen waren, aus Mangel an Surrogaten ihre Kinder selbst zu stillen.

Als nächstes zitiert Dr. Albert den Chefarzt Prof. Dr. Rudolf Demme, unter dem er als Assistenzarzt gearbeitet hatte.

Dem 15. medizinischen Jahresberichte des Bernerkinderspitals (Jennerspitals), herausgegeben von dessen Chefarzt, Herrn Prof. Dr. Rudolf Demme, entnehmen wir folgende interessante Thatsachen in Zahlen:
Seite 7: „Von unsern 225 Spitalkranken waren 93 bis zum Ablauf des vierten bis sechsten Lebensmonates von ihren Müttern gesäugt worden. Von den 1807 poliklinischen Patienten hatten 961 Kinder wenigstens während einiger Wochen oder Monate die Brust erhalten. 846 Kinder waren dagegen von Geburt an künstliche ernährt und zwar, mit Ausnahme der ersten Lebenstage, mit Breinahrung neben der Milchdarreichung aufgefüttert worden. Von diesem fehlerhaften, unter unsern ärmern Volksschichten noch allgemein üblichen Ernährungsprincipe ist wohl hauptsächlich die unverhältnismäßig große Zahl von Darmkatarrhen mit tödtlichem Ende oder Entwickelung der traurigen Formen von Marasmus infantilis (Abzehrung) bei unseren im Säuglingsalter stehenden poliklinischen Patienten abzuleiten.“

Prof. Demme liefert uns nicht nur Zahlen, an denen wir sehen können, wie kurz und selten die meisten Kinder in der Umgebung Berns gestillt wurden, und groß der Anteil der nicht gestillten unter den im Krankenhaus behandelten Kinder war. Insbesondere beschreibt er die übliche Nahrung der nicht Gestillten. 

Brei ist für Babys vor der Beikostreife einfach komplett ungeeignet und kann kaum verdaut werden. Viele dieser Kinder magerten ab und verhungerten schlichtweg trotz vollem Magen. Abzehrung war eine häufige Todesursache bei nicht gestillten Kindern. 

Wieviel häufiger Babys bei inadäquater Ernährung sterben als wenn sie gestillt werden, zeigt Dr. Albrecht mit den folgenden Vergleichen. 

Von den in den Jahren 1845-1864 auf der Stoltz’schen Klinik in Straßburg geborenen Kindern starben im ersten Lebensjahre von denjenigen, welche von der eigenen Mutter genährt wurden 19, von den in fremde Pflege Gegebenen 87 Procent.

Nach Willemin starben von Säuglingen, welche in den Gefängnissen bei den Müttern verblieben 19, von denjenigen, welche außerhalb der Gefängnisse künstlich aufgefüttert wurden, 43 Procent.

Nach Frank starben in München im ersten Lebensjahre:
Im Jahre 1868: 2804, davon mit Brustnährung 10,6, ohne Brustnährung 89,4 Procent. 
Im Jahre 1869: 2539, davon mit Brustnährung 16,1, ohne Brustnährung 83,9 Procent.
Im Jahre 1870: 2986, davon mit Brustnährung 17,6, ohne Brustnährung 82,4 Procent.

Bei dem Beispiel der inhaftierten Mütter sehen wir wie schon im eingangs erwähnten Beispiel von Paris, wie gering der Einfluss der äußeren Umstände auf die Gesundheit gestillter Kinder ist.

Ob Mütter stillen oder nicht, ist aber insbesondere von ihrer Einstellung abhängig. Das Stillen hatte nicht überall einen guten Ruf.

Die große Sterblichkeit in seinem Distrikte erklärt Rüdiger aus dem Mangel an Muttermilch. Von 5103 in den Jahren 1861-1866 Geborenen hatten 2722 keine Muttermilch, denn unter der dortigen Landbevölkerung gilt eine Frau, welche ihr Kind selber stillt, für träge.

Nach E. Walser starben in Leutkirch, Königreich Württemberg, von 1000 lebend Geborenen 499 im ersten Jahr; in den Nachbarämtern, wo die Frauen den Kindern nicht systematisch die Brust verweigern, nur 322.

Die ersten Vereine zur Kinderfürsorge wurden im 19. Jahrhundert in Frankreich gegründet. Sie entstanden als Antwort auf die große Sterblichkeit der in Pflege geschickten Babys. Insbesondere in Paris war es nämlich üblich, dass Babys direkt nach der Geburt zu einer Amme aufs Land geschickt wurden. Da diese Ammen und Pflegefamilien keiner Kontrolle unterlagen, starb ein Großteil der Kinder. Die Vereine setzten sich dafür ein, dass Mütter ihre Kinder selber stillten und dass die Pflegefamilien überwacht wurden.

In Lyon starben von 100 Lebendgeborenen, welche bei ihren Eltern blieben, die zu dem Zwecke unterstützt wurden, daß das Kind die Brust erhalte, vor Ablauf des ersten Jahres 21,24; von 100 solchen, welche von den Behörden in Privatpflege gegeben und überwacht wurden, 35,94; von 100, welche ohne jede weitere Ueberwachung privatim untergebracht wurden, 45,45 Procent.

Dasselbe Resultat ergab sich für Paris. Von 100 amtlich Untergebrachten und Beaufsichtigten starben im Arrondissement Nogent 17,35, von 100 ohne Aufsicht Ausgegebenen 41,13. 

Blot beschuldigt in einem über diese Thatsachten abgegebenen Gutachten neben Anderm die zu frühzeitige oder schlechte künstliche Ernährung und rieth als Mittel zur Abhülfe: Verbesserung der physischen und moralischen Lage der Bevölkerung, Unterstützung der armen Mütter zur Erleichterung des Selbststillens, Verbreitung von Kenntnissen über Hygiene und Kinderernährung.

Dr. Albrecht liefert uns auch Vergleiche zwischen den Religionen.

In München starben nach G. Wolfhügel von 100 Lebendgeborenen 41 katholische, 27-28 protestantische, aber nur 15-16 jüdische Kinder im ersten Jahre.

In Schwaben 44 Procent der christlichen, aber nur 8 Procent der jüdischen Bevölkerung.

Woher die Ursache dieser Erscheinung? Die Familien der Juden dort sind wohlhabender, die Kinder bekommen aufmerksame Pflege und bei regen Sinn der Juden für Familienleben erhalten die Kinder die Brust.

Anders soll dieses Verhältniß in Böhmen und Oestreich sein. Die Judenkinder sterben nach Ritter dort in großer Anzahl, denn entweder seien die dortigen Judenfrauen zum Kindersäugen zu nobel, oder nach Art der Pariserinnen für die Führung des Geschäftes nothwendig.

Wir sehen also auch hier, dass die unmittelbare Gesellschaft, in der sich die Mutter befindet, den größten Einfluß auf den Entschluß für oder gegen das Stillen hat.

Die Anzahl der nicht gestillten Kinder war so groß, dass deren Todesfälle die Statistik anführten. Sobald das Stillen vom Alter her keine Rolle mehr spielte, übernahmen Infektionskrankheiten die Position als größte Gefahr für das Leben der Kleinen. Wir können daraus schließen, wie viele Leben hätten gerettet werden können, wenn die Kinder gestillt worden wären, oder es wenigstens adäquaten Ersatz gegeben hätte.

Im ersten Lebensjahre raffen somit vorwiegend Störungen in der Verdauung und Ernährung die Kinder weg. Dr. Kleinmann giebt aus der vergleichenden Statistik der direkten Todesursachen für den Kanton Zürich an, daß von 1922 Todesfällen unter einem Jahr 786 oder 40,89 Procent auf Krankheiten der Verdauungsorgane fallen und 404 = 21,01 Procent auf Krankheiten der Respirationsorgane. Im zweiten Lebensjahre dreht sich dann das Verhältniß um zu Ungunsten der Athmungswerkzeuge.

Es folgt aus diesen Mittheilungen, welche größtentheils dem Handbuche der Kinderkrankheiten von Gerhardt entnommen sind, also gewiß auf Richtigkeit Anspruch machen können, daß als Todesursache im ersten Lebensjahre vorzugsweise die Krankheiten der Verdauungsorgane, durch unzweckmäßige Ernährung bedingt, wirken und zwar dies um so mehr, je näher das Kind seiner Geburt steht. Es läßt sich daraus die Folgerung ziehn, daß die Vermeidung von Verdauungskrankheiten mittelst verständiger Ernährung die Todesfälle vermindert. Dies gilt besonders für die ersten paar Monate. Es ist somit, da die Sterblichkeit mit der Brustentziehung steigt, in den ersten paar Monaten das Stillen der eignen Mutter mehr als sonst erforderlich und ist schon sehr viel für das individuelle Leben des Kindes gewonnen, wenn die Brust auch nur einige Monate gereicht wird.

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