Gehorsam gehört seit Ewigkeiten zu den höchsten Erziehungszielen. Auch heute noch spielt Gehorsam der Kinder für viele Eltern eine große Rolle. Doch der Grad des erstebten Gehorsams ist heute längst nicht mehr so groß wie früher. Blinder Gehorsam musste es sein. Heute reden wir lieber von Kooperation und suchen den Fehler nicht allein im Kind, wenn es mit der Kooperation nicht so klappt wie gewünscht. Das Miteinander ist wichtiger als die Befehlsgewalt und wir wissen, dass Kinder prinzipiell kooperieren wollen. Sie wünschen sich genauso ein harmonisches Miteinander wie wir Großen.
Doch zu Zeiten als die Gesellschaft streng hirerarchisch gegliedert war, waren es auch die Familien. Die Kinder standen da ganz klar an unterster Stelle. Doch genauso wie wir heute von dem Kooperationswillen des Kindes ausgehen, ging Dr. Adolf Matthias, ein Gymasialdirektor zu Düsseldorf, davon aus, dass Kinder ein Bedürfnis nach Gehorsam hätten.
Vor allem wird im ersten Jahre des Lebens die Grundlage gelegt für den Gehorsam des Kindes. Diesem hilflosen Wesen ist Unterwerfung unter Autorität Bedürfnis, ihm ist Gehorsam natürlich; es übt ihn schließlich gern und es fühlt sich glücklich, wenn es ihn üben kann. Nichts ist verkehrter als jene schwächliche und geradezu läppische Art, die anstatt zum Kinde in freundlicher Hilfsbereitschaft herabzusteigen, um es emporzuziehen, das liebe Kleine in seiner kindischen Unfertigkeit als etwas absolut Liebenswürdiges, Reizendes, Bewundernswertes hätschelt und selbst kindisch wird. Man rede ja nicht von Kinderunschuld, wo es sich um das Wollen und Begehren des Kindes handelt; dieses ist auf Befriedigung selbstsüchtiger und eigenwilliger Wünsche gerichtet, deren Berechtigung es nicht beurteilen kann.
Wie erziehen wir unseren Sohn Benjamin?, Dr. Adolf Matthias, 1897
Man hatte zu dieser Zeit anscheinend eine ganz andere Vorstellung davon, wie Gehorsam funktioniert. Und davon, was Liebe ist.
"Der Gehorsam gründet sich auf Liebe, Achtung und Vertrauen und es ist daher von großer Wichtigkeit, daß sich die Eltern dem Kinde gegenüber keine Blößen geben, daß sie nichts thun, was die Achtung des Kindes vor ihnen untergraben und den Glauben an die mütterliche Unfehlbarkeit und die väterliche Autorität erschüttern könnte."
Das Buch der Mütter, Marie Susanne Kübler, 1891
Wir hatten ja schon einmal darüber gesprochen, dass man zu dieser Zeit dachte, Kinder würden als Tabula Rasa auf die Welt kommen, und jegliches Verhalten sei angewöhnt. Dementsprechend wurde von Geburt an auf "richtige" Gewöhnung geachtet.
"Die zweite Aufgabe [der Erziehung im Säuglingsalter] ist die richtige Gewöhnung des Kindes. Ein altes Sprichwort sagt: "Wie man sich Kinder erzieht, so hat man sie." Manche junge Mutter bedenkt oder weiß wohl nicht, daß sie schon ihren Säugling verziehen, ihm Unarten anerziehen kann, die ihm zur andern Natur werden und später durch Lehre und Strafe nur schwer wieder ausgetilgt, oft bloß noch gemildert werden können. Das durch unrichtige Gewöhnung bereits verzogene Geschöpfchen muß durch Versagung alles Unpassenden, durch Liegen- und Schreienlassen, ja selbst durch ernste Worte und einige Klapse auf das Gesäß, "antipolarische" Ableitungsmittel, von dieser ersten Unart geheilt werden."
Das Buch der Mütter, Marie Susanne Kübler, 1891
Gleichzeitig war man der Meinung, den Kindern solle viel Freiheit gelassen werden. Man wusste auch damals schon, dass zu viele Verbote die Kinder frustrieren und die Kooperationsbereitschaft deutlich senken.
"Die meisten Mütter fehlen darin, daß sie in der Absicht, ihr Kind an das Gehorchen zu gewöhnen, beständig und gedankenlos verbieten und befehlen und darin eine Erziehung zu üben glauben; sie können aber versichert sein, und die Erfahrung muß es ihnen sagen, daß gerade durch dieses Verfahren das Gegentheil der Absicht bewirkt wird, daß das Ohr und Gefühl des Kindes gegen diese gedankenlose Wiederholung der Ver- und Gebote abgestumpft und unempfänglich gemacht und das Einreden der Mutter nur zu einem nicht mehr beachteten Geräusch wird, das nicht den mindesten Einfluß mehr auf die Neigungen und Handlungen des Kindes ausübt. (...) Die Mutter unterlasse daher die steten Verbote, Zurechtweisungen und Scheltreden, lasse das Kind und seine Gespielen so lange gewähren, als es die gute Ordnung, die Rücksicht auf seine Gesundheit und Sitte und die Anwesenden gestattet, gebe ihm keine Gelegenheit, den Kreis der Willens- und Verkehrsfreiheit in der Art zu überschreiten, daß sie zu ungewohnten Einschränkungen der störenden oder nachtheiligen Ueberschreitungen genöthigt wird, und hüte sich vor jeder Heftigkeit in der Willenseinschränkung, denn das Kind würde ohnehin die Heftigkeit der Mutter hier nicht verstehen, da sie ja selbst die Erweiterung der Freiheit begünstigte oder stillschweigend zuließ."
Die Mutter, Hermann Klencke, 1875
Doch in den folgenden Jahrzehnten wandelte sich diese Haltung. Nicht durch Gewährenlassen, sondern durch mehr Strenge sollten die Kinder nun zum Gehorsam gezwungen werden.
"Gibt nun die Mutter leicht nach, so wird der Säugling später als Kleinkind, erst recht alle Register ziehen, unermüdliches Bitten und die ganze Reihe seiner Mittel hinauf bis zum eigensinnigen Bocken, um einen abgeschlagenen Wunsch doch durchzusetzen und ein elterliches 'Nein' in ein 'Ja' umzuwandeln. Es besteht durchaus die Gefahr, daß ein solches Kind endlich eine recht unerwünschte Herrschaft über die Eltern ausübt, mitunter sogar offensichtlich und tyrannisch. Und diese Gefahr wird um so größer sein, je weniger sich Vater und Mutter, Onkel und Tanten und vor allem die lieben Großmütter vor allzu reichlichen Zärtlichkeiten warnen lassen. Alle jenen Übertreibungen nämlich, die mit wahrer Kindesliebe gar nichts zu tun haben, die kindische Nachäffung der kindlichen Sprache und das ewige Abküssen und Betätscheln zuerst des Säuglings und später des Kleinkindes, wie man es mitunter findet, sind erzieherisch und gesundheitlich grobe Fehler."
Der deutschen Mutter, Hanns Sylvester Stürgkh, 1940
Eine gesunde Beziehung sieht anders aus.