In dem Nachschlagewerk "Mutter und Kind - Ein Lexikon der Kinderstube" steht unter dem Buchstaben A auch der Begriff "Angst". Das Buch erschien Ende des 19. Jahrhunderts und beinhaltet unter anderem harte Tipps zum Abstillen und Ratschläge zur Ammenhaltung. Die Autorin schrieb unter dem Namen J. von Wedell. Sie war eine Adlige und offenbar sehr wohlhabend. Was für Ansichten hatte so jemand über kindliche Angst?

Angst. "Geh in das Schlafzimmer und hole dir dein Taschentuch selbst!" sagt der Papa zu Lilli. Die Kleine bleibt mit weinerliche verzogenem Gesichtchen stehen, um die Lippen zuckt es, die blauen Augen sehen mich mit herzerweichendem Blick an, das Füßchen haftet zögernd am Boden. "Nun, auf was wartest du?" fragt der Vater hinter der Zeitung hervor, Lilli mit einem strafenden Blick ansehend. "Ich habe solche Angst!" stammeln die kleinen Lippen unter Schluchzen, und die Kleine flüchtet sich zitternd am Mamas Brust.

Giebt es ein Mittel, dem Kinde diese Angst auszutreiben? fragen Mamas Augen. Das Beste ist, diese Angst gar nicht aufkommen zu lassen; ihre Heilung verlangt eine ganze Portion Geduld, Klugheit und Selbstbeherrschung.

Angst war offensichtlich unerwünscht. Doch zunächst versucht J. von Wedell der Ursache der Angst auf die Schliche zu kommen.

Schon im zartesten Alter wird dem Kinde von unvernünftigen Wärterinnen und unerzogenen Kindermädchen gedroht: "Wenn du nicht gleich artig bist, kommt der schwarze Mann und holt dich." - "Wart' nur, du mußt im dunklen Zimmer schlafen." - "Hinter dem Ofen sitzt die schwarze Hexe." - "Siehst du die glühenden Augen der Katze dort in der Ecke?" - Die Schatten, die die Lampe wirft, malt die geängstigte Phantasie des Kindes nun zu Gespenstern aus, und die Kinderfrau, froh, den wilden Jungen wenigstens mit einem Mittel bändigen zu können, begünstigt diese Schreckhaftigkeit, um ihre Macht über das Kind zu befestigen.

Hier liegt die Wurzel des Uebels, liebe Mutter, hier setze den Hebel zur Besserung ein. Verbiete den Dienstboten auf das Ernsteste, das Kind mit Drohbildern einzuschüchtern, und wache darüber, daß ihm keine Gespenstergeschichten erzählt werden. Vermeide alle aufregenden Eindrücke abends vor dem Schlafengehen, gewöhne es, die Finsternis als etwas Natürliches anzusehen, indem du es im Dunkeln schlafen läßt.

Angst sei demnach etwas anerzogenes. Und zwar vom Dienstpersonal anerzogen. Eine adlige Mutter behandelt ihr Kind also nicht so? Mal sehen.

Ein Kind ist von Natur nicht ängstlich, nein, gerade die Sorglosigkeit ist sein liebenswerter Schmuck. Nur das künstlich eingeimpfte Fürchten macht es dazu. So wird z.B. ein Kind, das allein von der klugen Mutter erzogen und behütet wird, kaum je eine Regung der Angst vor dem Alleinsein und der Dunkelheit kennen.

Steile These. Das Kind kennt von Natur aus keine Angst? Das wage ich sehr zu bezweifeln.

Nun gut. Aber was macht man, wenn das Kind nun einmal Angst hat? J. von Wedell bespricht im folgenden verschiedene Arten von Angst und wie man ihrer Meinung nach damit umgehen soll.

Beobachtest du nun aber, liebe Leserin, daß dein Liebling sich vor Dingen zu fürchten beginnt, die er früher anstandslos that, wie es z.B. eben die kleine Lilli, von der ich dir erzählte, machte, so darfst du das Kind nicht rauh anfassen. Mit Schelten und körperlichen Züchtigungen hat noch keiner die Furcht kuriert. Nein, mit ruhiger Freundlichkeit sage zu der armen bedrückten kleinen Seele: "Du fürchtest dich vor dem dunklen Zimmer? Komm, wir wollen mal nachsehen, was denn so Schreckliches darin ist. Sieh, wir zünden uns ein Licht an und untersuchen nun genau alle Ecken und Winkel. Du wirst schon sehen, daß gar nichts zum Fürchten im Zimmer ist." Und nun nimmst du die Kleine bei der Hand un zeigst ihr, indem du die Möbel und Winkel beleuchtest, daß nichts Außergewöhnliches im Raum vorhanden ist. Am andern Tage gehst du, wenn es dunkel gewordn, wieder mit ihr in das gleiche Zimmer, diesmal ohne Licht, lehrst sie unter freundlichem Scherz die Möbel durch Betasten erkennen und sich den richtigen Weg bahnen, machst dann Licht, um ihr zu zeigen, daß sich auch diesmal nichts im Zimmer verbirgt. So wird allmählich die Furcht aus der kleinen Seele verschwinden. Nach und nach lernt das Kind sich in der ganzen Wohnung auch im Dunkeln zurechtfinden. Sehr rührend ist es, wie die Kleinen, einmal aufdiesem Punkte angelangt, sich selbst Mut zu diesen Exkursionen zu machen. So beginnt mein Fünfjähriger jedesmal laut zu singen: "Lieb Vaterland magst ruhig sein", oder sich eine Geschichte zu erzählen, um sich über das Gefühl des Alleinseins bei der Expedition nach Papas Pantoffeln, die am Bett stehen, oder Mamas Schlüsselkorb, der zufällig verstellt ist, hinwegzutäuschen.

Klingt soweit gut. Das Kind wird ermuntert und spielerisch angeleitet, seine Angst zu überwinden. Ich hätte wohl ein anderes Lied gewählt, aber meinetwegen. Hauptsache, es ist ein Lied, das dem Kind keine Angst macht. (Man denke da nur an die Textzeile "morgen früh - so Gott will - wirst du wieder erweckt" aus "Guten Abend, gute Nacht")

Angst vor fremden Menschen findet sich meist bei solchen Kindern, deren Eltern wenig Umgang haben. Sie verliert sich durch freundliches Zureden, nie aber durch Auslachen oder heftige Worte. Die Angst vor Fremden ist die einzige Furcht, die ich bei meinen Kindern dulde, ja sogar künstlich in einem gewissen Grade hervorrufe. Es ist dies für alle Kinder, die in einer Großstadt aufwachsen, leider dringend geboten. So reizend das harmlose Zutrauen des Kindes ist, so muß die Mutter, welche genötigt ist, es in einer größeren Stadt allein zur Schule zu schicken oder es auf der Straße spielen zu lassen (dies letztere läßt sich bei Knaben selten vermeiden), dem Kinde unbedingt Furcht und Abneigung gegen Fremde einflößen. Sie muß dem Kinde einschärfen, unter keinen Umständen mit Fremden zu gehen oder gar mit in ihre Wohnung zu kommen. Streng muß sie verbieten, etwas von Fremden anzunehmen. Sofort soll das Kind zu ihr kommen und ihr sagen, wenn ein Unbekannter ihm Süßigkeiten anbietet. Allerdings muß sie verstanden haben, die Naschsucht des Kindes von Anfang an zu unterdrücken. Alljährlich werden in großen Städten unzählige Verbrechen an Kindern verübt, die verhindert worden wären, wenn man die Kinder weniger begehrlich und naschsüchtig erzogen und angeleitet hätte, sofort bei der Annäherung eines Unbekannten davon- und heimzulaufen.

Uiuiuiuiui. Wo soll ich anfangen? Angst vor Fremden entsteht wohl kaum, weil die Eltern mit dem Kind nicht genug unter Leute gehen. Zumal wir wissen, dass das gesellschaftliche Leben und die Kinderstube klar getrennt wurden. Ich frage mich, wie die Autorin das Fremdeln von Babys einordnet.

Sobald ein Unbekannter sich ihnen nähert, sollen Kinder nach Hause laufen? So eine panische Angst findet die Autorin gesund und wichtig? Und Süßigkeiten sollen der einzige Grund sein, warum Kinder entführt werden? Massenweise entführt werden? Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.

Die Angst vor körperlichem Schmerz versuche mit einem Appell an das Ehrgefühl zu heilen. "Du willst ein Mann werden und fürchtest dich vor dem bißchen Zahnausziehen? Dann kannst du ja nicht Soldat werden!" - "Mutters große Tochter ist so tapfer wie Muttchen selbst, nicht wahr?" In einer befreundeten Familie, die zur Erinnerung daran, daß einst ein Urahne Franz den Ersten in der Schlacht bei Pavis bewachte, die bourbonischen Lilien im Wappen führt, spielt dieser Großvater eine gewaltige Rolle in der Kinderstube. "Wie, du weinst bei der Dusche, du, dessen Großvater den Franzosenkönig gefangen nahm?" Sofort legt sich das Geschrei. "Nein, da würde Großpapa mich ja auslachen!" und tapfer hält der Kleine dem verhaßten Wasserregen stand. Besonders in solchen Fällen empfiehlt sich die Kräftigung des Ehrgefühls, wo die beginnende Angst und Furchtsamkeit auf Feigheit schließen lassen. Hier muß die Mutter den fehlenden natürlichen Mut allmählich durch moralischen zu ersetzen wissen. Sie muß Standhaftigkeit belohnen, das Selbstbewußtsein heben, die Verantwortlichkeit lehren.

Also "Ehrgefühl stärken" geht meiner Meinung nach anders. Ganz anders. Das Kind zu beschämen und der Lächerlichkeit preis zu geben ist, wohl kaum ein Mittel zur Stärkung von irgendetwas anderem als dem Minderwertigkeitsgefühl. Ein vorbildliches Verhalten gegenüber Mitmenschen lehrt das auch nicht gerade.

Apropos Vorbild. Können wir unseren Kindern nicht auch durch Vorbild zeigen, dass sie keine Angst zu haben brauchen?

Bei deinem Kriegszug gegen die Angst versäume nicht, der jungen Seele die Allgegenwart und Allwissenheit des gütigen Gottes zu lehren, der uns schützt und behütet. Die Liebe, eine innige Liebe zu Gott in die Kinderseele zu pflanzen, ist die schönste Aufgabe der Mutter. Die Furcht vor Gott zu lehren, ist Sache des späteren Unterrichts, Hauptsache ist, daß das Kind den Schöpfer alles Guten zunächst lieben, an ihn glauben, zu ihm vertrauensvoll beten lernt. Du wirst aber, wie bei der Erziehung überhaupt, so auch auf diesem einzelnen Gebiet nur Erfolg haben, wenn dein Beispiel in allen Fällen plötzlich auftretender Gefahr, z.B. beim Gewitter, beim Anblick widerlicher Tiere u. s. w. einwandfrei ist. Deine Ruhe überträgt sich auf das Kind, dein furchtloses Auftreten ermutigt es zu gleichem. Du erklärst ihm die Vorgänge der Natur und verwandelst die Furcht vor Donner und Blitz in Ehrfurcht vor göttlichem Walten. Du zeigst ihm durch die That, daß auch Tiere, die im allgemeinen zu Gegenständen des Abscheus im Volksmunde geworden, nichts Angsterregendes haben, sondern Geschöpfe Gottes sind. Du brauchst ja nicht so weit zu gehen, daß es Spinnen auf dem Butterbrot verzehrt, wie es Gleim in seiner Jugend zur Abtötung des Widerwillens gethan, wohl aber lehre es die Tiere anfassen, indem du ihm zeigst, wie und wo es gefahrlos gethan werden kann.

Na, geht doch!

Obwohl ...

"Die Furcht vor Gott zu lehren, ist Sache des späteren Unterrichts"

Oh.