Immer wieder tauchen in den Erziehungsratgebern Berichte aus anderen Ländern auf. Der Vergleich dient manchmal als Vorbild, manchmal als Gegenargument. Aus heutiger Sicht ist es interessant zu sehen, welche Abweichungen es gab, und ob diese insgesamt auf eine andere Einstellung gegenüber Kindern hindeuten oder nicht, so wie diese Behandlung einer amerikanischen Familie auf Besuch in Deutschland. Besonders häufig wurde England zum Vergleich herangezogen. Doch auch aus anderen Ländern gab es Berichte. Hier eine kleine Auswahl.

Ernährung

"In England wird der Rindfleischthee in der Kinderpraxis oft gebraucht. Der Verfasser kann das Mittel wie die Art es zu bereiten rühmen. Man nimmt ein Stück von allen Fettheilen gereinigtes Rindfleisch, zerschneidet es in kleine Stücke, gießt auf die Wuantität eines gehäuften Eßlöffels sechs bis acht Eßlöffel frischen Wassers, setzt es auf die Spirituslampe und läßt es drei bis fünf Minuten kochen, seiht es durch ein feines Tuch und preßt den Rückstand Einer solchen Bouillon kann man Milch oder auch Zucker beimischen."

Die ersten Mutterpflichten und die erste Kinderpflege, Dr. Friedrich August von Ammon, 6. Auflage, 1854

"Im Gegensatz zu der in manchen Ländern herrschenden Ansicht, z.B. der in den Vereinigten Staaten verbreiteten Lehre des "self-demand-feeding" haben wir die Meinung, daß (hauptsächlich bei der Nahrungsaufnahme) nicht die Wünsche des noch unerfahrenen Kindes das Handeln der Eltern bestimmen dürfen, sondern daß das Kind von Anbeginn an liebevoll, aber konsequent geführt werden und frühzeitig lernen soll, sich dem Willen und den Anordnungen des Erziehers einzufügen."

Die Pflege des gesunden und des kranken Kindes - zugleich ein Lehrbuch der Ausbildung zur Säuglings- und Kinderkrankenschwester, Werner Catel, 8. neubearbeitete Auflage, 1964

"In der Geschichte der modernen Industrieentwickelung bleibt es eine unvergeßliche Tatsache, daß während der schweren Baumwollenkrisis in England (1860), als die Fabriken geschlossen wurden und eine Hungersnot ausbrach, die Sterblichkeit der Säuglinge um die Hälfte abnahm, weil die arbeitslosen Mütter imstande waren, ihnen statt der sonstigen Opiummixtur die Brust zu reichen."

Die sozialen Ursachen der Säuglingssterblichkeit, Gustav Temme, 1908

Kleidung

"Mädchen sollen frühzeitig Unterhosen tragen, namentlich im Winter, damit sie hinreichend geschützt sind, ohn dass man genöthigt ist, ihnen schwere Unterröcke anzulegen, In Frankreich und England wird viel Wert darauf gelegt, dass diese Unterhosen, wo sie den unteren Theil des Rumpfes bedecken, vollständig geschlossen seien. Allerdings gewähren sie dadurch vollständigen Schutz und mögen auch gewisse pädagogische Vortheile haben, aber unbequem sind sie und schieben die Zeit hinaus, in der die Kinder in der Lage sind, nach der Befriedigung von natürlichen Bedürfnissen ihre Kleidung ohne fremde Hilfe wieder in Ordnung zu bringen. Für den Schutz gegen Erkältung genügt es, wenn nur der Bauch dauernd bedeckt ist, rückwärts kann ein Schlitz sein, der weit genug nach unten und vorn reicht, um auch die Entleerung des Urins ohne weitere Vorbereitung zu gestatten. Dasselbe gilt für die Unterhosen der Knaben, die früher vielfach und nicht unzweckmässig mit einem Leibchen ohne Aermel versehen und vorn zugebunden oder zugeknöpft wurden. Das Leibchen gewährt eine Bedeckung für einen Theil des Rumpfes, der bei der üblichen Knaben- und Männerkleidung meist schlecht geschützt ist."

Wie behütet man Leben und Gesundheit seiner Kinder?, Dr. Ernst Brücke, Wien und Leipzig, 1892, S.152

Tragetücher

"Das Kind ist horizontal oder fast horizontal, mit dem Kopfe etwas höher, zu legen und auch so zu tragen; das frühe Aufrichten, namentlich anhaltendes, ist zu vermeiden, weil die noch schwache Wirbelsäule leiden könnte. Freilich tragen die Slovakenweiber ihre kleinen Kinder in aufrechter Stellung auf dem Rücken, und dieselben behalten doch ihre geraden Glieder; aber sie sind nicht frei aufgerichtet, sondern ruhen vorne auf dem Rücken der Mutter, und hinten hält sie das Tragetuch, so dass ihr ganzer Körper gestützt ist."

"Wie behütet man Leben und Gesundheit seiner Kinder?", Dr. Ernst Brücke, 1892

Schule

"Wie sich Kinder ohne einen geregelten Schulunterricht entwickeln, braucht nicht durch neue Beobachtungen erwiesen zu werden, denn es gab und gibt Kinder genug, welche frei vom Schulunterrichte aufgewachsen sind. Belehrend sind auf diesem Gebiete die Erfahrungen, welche in Amerika gemacht wurden. Die Freiheit in der Erziehung der Kinder hat daselbst leider nicht eine große Zahl hervorragend origineller oder leistungsfähiger Menschen hervorgebracht, sondern im Gegenteil zu der Erkenntnis geführt, daß dadurch die Zahl der Kinder, welche auf Abwege geraten und zu jugendlichen Verbrechern werden in erschreckender Weise vermehrt wird. Man sah sich genötigt, eigene Kindergerichte einzusetzen, die die Kinder nicht zu Freiheitsstrafen verurteilen, sondern einem kontrollierten Zwangsunterrichte oder der Internierung in Zwangserziehungsanstalten zuführen. Das Hauptprinzip des Unterrichtes in den Zwangserziehungsanstalten besteht darin, den Kindern eine Schulbildung beizubringen, sie zur Subordination unter die Autorität von Lehrer und Vorgesetzten zu erziehen und in ihnen das Pflichtbewußtsein zu wecken, also die Aufgabe der normalen Schulbildung nachzuholen."

Der Arzt als Erzieher des Kindes, Prof. Adalbert Czerny, 11. Auflage, 1946

Ein Reisebericht

Zum Schluß dieses Abschnittes stehe ein Fragment aus der Reisebeschreibung einer Deutschen über England, das durchaus dem Leben und der Wahrheit entnommen ist, und zum Nutzen und Frommen der deutschen Kinderwelt hier und dort Anklang finden möge. (Fanny Lewald, England und Schottland. Braunschweig 1851. 1. Band. S.526.) "Ich habe nirdens kräftigere, gesundere Kinder gesehen, als in England. Die Art, in der man sie hält, die große Regelmäßigkeit und Einfachheit, mit der sie ernährt werden, vor allem aber die außerordentliche Sauberkeit sind nicht genug zu rühmen. Die von den Frauen des Continents so oft als unsinniger Luxus verspottete Mode, die Kinder in den ersten Lebensjahren nur weiße Kleider tragen zu lassen, hat ihr sehr Nützliches für die Reinlichkeit. Selbst unbemittelte Frauen, welche mit eigner Hand die Röckchen waschen und jede derartige Mühwaltung übernehmen müssen, verwenden es gern, weil es für ein Zeichen von Nachlässigkeit gilt, ihren Kleinen dunkle wollene Kleider zu geben, deren ganzer Vorzug darin besteht, daß man die Unsauberkeit derselben weniger bemerkt. Ein dunkles Kleid kann man über vernachlässigte Röckchen ziehen, ein weißes nicht; und so macht das weiße Kleid eine durchgehende Reinlichkeit im Waschen und Baden der Kinder nöthig, wie bei uns nur begüterte Familien es kennen. Aßer der Reinlichkeit kommt es den Kindern sehr zu Statten, daß man in England in den Städten nur Waizenbrod genießt, und daß man die Kleinen nur drei Mahlzeiten machen läßt. Sie bekommen im Sommer um acht Uhr nach einem Spaziergange das Frühstück, um zwei Uhr Mittag, ums sechs oder sieben Uhr den Thee. Besondere Speisen für sie zu bereiten, hat man bei der Einfachheit der englischen Küche um so weniger nöthig, als man sie ohne alles Bedenken fettes Fleisch und kräftige Kost genießen läßt. Sie werden in der Regel auch im Maaße der Lebensmittel nicht beschränkt, aber man hält streng darauf, daß sie außer den Mahlzeiten nichts genießen und nach der letzten noch eine oder ein paar Stunden umherspielen, damit die Verdauung nicht im Schlafe geschehe, und das Blut dick und schwer mache."

Die ersten Mutterpflichten und die erste Kinderpflege, Dr. Friedrich August von Ammon, 6. Auflage, 1854