Sie reden in die Erziehung rein. Sie können nicht verstehen, dass wir es heute anders machen als sie. Sie wissen immer alles besser. Sie drängen uns zu stillen, obwohl die Zeit noch nicht um ist, und nehmen einfach das Kind hoch, wenn es schreit, obwohl es doch lernen soll, dass es so nichts erreichen kann!
Ähm. Was?!?
Richtig gelesen. Das waren die Konflikte zwischen Eltern und Großeltern vor hundert Jahren.
Großeltern wurden als viel zu weich („zärtlich“ im Sinne von "zart und schwach") angesehen. Die neue, moderne Kinderpflege sah ganz andere Dinge vor als die Großeltern selber kannten. Den Verfechter‘innen der strikt durchregulierten Erziehung waren sie daher ein Dorn im Auge. Großeltern hielten ihrer Meinung nach den Fortschritt zurück. Dementsprechend versuchten Autor‘innen, einen Keil zwischen Eltern und Großeltern zu schieben. Das Ziel war, den Einfluss der Großeltern zu minimieren, und den eigenen sowie den Einfluss der neuen Mütterberatungsstellen zu vergrößern.
Junge Mütter sollten nicht mehr in der eigenen Familie nach Rat, Erfahrung und Unterstützung suchen, sondern bei den Ärzten (männlich!), die meinten, Forschung habe gezeigt, dass alte Traditionen und Gewohnheiten allesamt falsch seien.
"Wie sehr wir auch die praktischen Lebenserfahrungen von Großmüttern und alten Frauen achten und ehren, allein manche Ratschläge derselben, mit herübergenommen aus alten Zeiten, unterbleiben zuweilen besser, wenn das Kind gedeihen soll! Ist es doch eine anerkannte Tatsache, daß die Behandlung der Säuglinge in früheren Zeiten eine ganz andere und nur zu häufig falsche war, da wir die genauen Vorschriften über Nahrung etc. erst dem Fortschritte auf dem Gebiete der Chemie verdanken; ebenso steht fest, daß infolge dieser die Sterblichkeit im ersten Lebensjahre in Abnahme begriffen ist."
Das Kind im ersten Lebensjahre - dessen Pflege und Krankheiten, Dr. Friedrich Böhm, 6.Auflage, 1904
Überhaupt passte (Alters-)Milde nicht zu den Erziehungsmaximen des Schreienlassens, des Unterdrückens des kindlichen Willens und des absoluten Gehorsams.
Die meisten Erziehungsfehler betreffen das erstgeborene Kind, besonders, wenn es erst nach mehrjähriger Ehe zur Welt kommt. Noch mehr Erziehungsfehler kann man aber beobachten bei Erstgeborenen sehr alter Eltern oder bei Nachzüglern, welche nach einer Pause von 10 bis 20 Jahren folgen. Dagegen lehrt die Erfahrung, daß die Kinder am besten davonkommen, deren Eltern relativ jung sind. Ältere Menschen sind immer weichherziger, nachsichtiger gegen Kinder, und ihre Milde nimmt Formen an, welche sie zur Erziehung von Kindern ungeeignet machen. Aus diesem Grunde sind auch Großmütter und alte Tanten für Kinder, denen sie ihre Gunst zuwenden, oft kein Vorteil.
Der Arzt als Erzieher des Kindes, Prof. Adalbert Czerny, 11. Auflage, 1946
Durch Nähe und Zuwendung entsteht eine enge Beziehung zum Kind, die nicht gewünscht ist. Schließlich ist es schwierig, hart zu einem anderen Menschen zu sein, wenn als liebenswertes Geschöpf angesehen wird. Gegenüber einem Tyrannen ist das viel einfacher. Diese Sprache wurde mit Absicht gewählt.
"Schon der Säugling merkt genau, wieviel er durch Geschrei erreichen und ertrotzen kann, und gelingt es ihm einmal, so wird er dies regelmäßig zu erreichen suchen und dabei den Nachdruck seines Drängens ständig steigern. Gibt nun die Mutter leicht nach, so wird der Säugling später als Kleinkind, erst recht alle Register ziehen, unermüdliches Bitten und die ganze Reihe seiner Mittel hinauf bis zum eigensinnigsten Bocken, um einen abgeschlagenen Wunsch doch durchzusetzen und ein elterliches 'Nein' in ein 'Ja' umzuwandeln. Es besteht durchaus die Gefahr, daß ein solches Kind endlich eine recht unerwünschte Herrschaft über die Eltern ausübt, mitunter sogar offensichtlich und tyrannisch. Und diese Gefahr wird um so größer sein, je weniger sich Vater und Mutter, Onkel und Tanten und vor allem die lieben Großmütter vor allzu reichlichen Zärtlichkeiten warnen lassen. Alle jene Übertreibungen nämlich, die mit wahrer Kindesliebe gar nichts zu tun haben, die kindische Nachäffung der kindlichen Sprache und das ewige Abküssen und Betätscheln zuerst des Säuglings und später des Kleinkindes, wie man es mitunter findet, sind erzieherisch und gesundheitlich grobe Fehler."
Der deutschen Mutter, Hanns Sylvester Stürgkh, 25. Auflage, 1940
Das Aufbringen der Eltern gegen die Großeltern und gegen die eigenen Kinder isolierte sie immer mehr und setzte sie unter Druck, dass die Erziehung auf gewünschte Weise funktionieren musste. Die Erwartungen, die an die Babys und Kinder gestellt wurden, waren aber völlig falsch, so dass Frust und Isolation stiegen. Denn über die Probleme zu reden, hätte ja geheißen, sich selbst Fehler und vor anderen ein Versagen einzugestehen. Diese Mechanismen sind lange bekannt, und ich habe sie in meinem Blog schon mehrfach beschrieben, aber erst 2017 konnte nachgewiesen werden, dass das Lesen von Erziehungsratgebern, die strenge Regeln propagieren, bei den Eltern zu Depressionen und geringem Selbstwertgefühl (1) führen.
Es ist schlimm, dass es selbst heute noch solche Ratgeber gibt. Umso wichtiger ist die Aufklärung und die Aufarbeitung der Vergangenheit.
(1) [edit: 1.7.2022: Link entfernt, da Seite nicht mehr vorhanden. Es ging um dieses Paper der Uni Swansea: Harries, V., & Brown, A. (2017) The association between use of infant parenting books that promote strict routines, and maternal depression, self-efficacy, and parenting confidence. Early Child Development & Care. Doi: 10.1080/03004430.2017.1378650]