Bis zur Einführung des Reichsgesetzes vom 6. Febr. 1875 gab es in Preußen neben der gewöhnlichen Ehe oder "Ehe zur rechten Hand" auch die "Ehe zur linken Hand". Diese erlaubte Männern, eine Frau von niedrigerem Stand zu heiraten. Seit 1791 galt dieses Recht nur noch für Adlige und hohe Beamte. Es musste vom Landesherrn eine Erlaubnis zu dieser Eheschließung erteilt werden.
"Ehe (juristisch) (...)
Von der gewöhnlichen E. oder der E. zur rechten Hand ist zu unterscheiden die E. zur linken Hand, welche sich von ersterer hauptsächlich dadurch unterscheidet, daß die Frau dadurch nicht alle Standes- u. Familienrechte, wie durch die E. zur rechten Hand, erlangt. Die Frau erhält nämlich nicht den Namen, noch den Stand u. Rang des Mannes, sondern behält diejenigen, welche sie vor der E. gehabt hat. Dergleichen E. sind in der Regel nicht zulässig, sondern erfordern allemal die unmittelbare landesherrliche Erlaubniß, welche nur von Mannspersonen höhern Standes im außerordentlichen Fällen u. aus erheblichen Gründen nachgesucht werden darf."
Das Hauslexikon - Vollständiges Handbuch praktischer Lebenskenntnisse für alle Stände - 2. Band, 1835
Die Erlaubnis wurde nur erteilt, wenn der Mann schon Kinder aus einer vollwertigen Ehe hatte, oder wenn er nicht genug Vermögen hatte, um seine Familie seinem Stand gemäß zu versorgen. Einer Frau aus niedrigerem Stand musste er nämlich nicht so viel bieten können, denn sie stieg mit der Heirat nicht in seinen Stand auf und hatte nur Anspruch auf einen Unterhalt, der ihrem eigenen Stand entsprach.
"Die persönlichen Rechte und Pflichten der Ehegatten waren dieselben wie bei einer vollgültigen Ehe. Die Frau erhielt jedoch nicht Namen und Stand des Mannes. Sie hatte nur Anspruch auf den ihrem Stand gemäßen Unterhalt. Der Mann hatte kein Recht am Vermögen der Frau, insbesondre nicht den Nießbrauch. Die Ehegatten konnten sich nicht gütligerweise Geschenke machen, so lange Kinder aus einer vollgültigen Ehe vorhanden waren; sonst waren Geschenke gültig, fielen aber an den Mann zurück, wenn die Frau starb, ohne Kinder zu hinterlassen."
Lehrbuch des Preußischen Privatrechts und der Privatrechtsnormen des Reichs, Dr. Heinrich Dernburg, 3. Band, 3. Auflage, 1884
In einer Ehe zur rechten Hand ging das Vermögen der Frau an den Mann. Es gehörte ihm zwar nicht, aber er durfte darüber verfügen. In der Ehe zur linken Hand galt hingegen Gütertrennung.
Vor der Trauung zur linken Hand mussten die Verlobten zwingend einen Ehevertrag abschließen, der den Unterhalt der Frau im Falle einer Trennung regelte. Im Falle einer Scheidung - bei der eine schuldige Partei bestimmt wurde - bekam die Frau auf richterliche Entscheidung bis zu dem Doppelten der im Ehevertrag vereinbarten Summe, wenn der Ehemann zum Schuldigen erklärt wurde.
Nach Einholung der landesherrlichen Erlaubnis und Absegnung des Ehevertrages durch das Landesjustitzkollegium der zuständigen Provinz durfte geheiratet werden.
"Hierauf wurde die Trauung an die linke Hand vollzogen, es mußte im Kirchenbuch ausdrücklich bemerkt werden, daß die Ehe zur linken Hand geschlossen war."
Lehrbuch des Preußischen Privatrechts und der Privatrechtsnormen des Reichs, Dr. Heinrich Dernburg, 3. Band, 3. Auflage, 1884
Bei der Trauzeremonie gaben sich die Brautleute für gewöhnlich die rechte Hand. Bei der "Trauung an die linke Hand", sollte die linke gereicht werden. Doch auch wenn "aus Versehen" die rechte gereicht wurde, blieb es eine "Ehe zur linken Hand". Der Priester konnte allerdings mit einer Geldstrafe rechnen.
"Sollte übrigens aus Versehen die Trauung nicht an die linke, sondern an die rechte Hand geschehen, oder bey der Eintragung im Kirchenbuche die Vorschrift des §. 861. nicht beachtet worden seyn, so kann zwar der Geistliche deshalb mit einer fiskalischen Strafe belegt werden, hingegen hat dieses Versehen auf die Ehe selbst keinen Einfluß, sie gilt doch nur als eine Ehe zur linken Hand, und die Trauung braucht nicht wiederholt zu werden."
Praktischer Kommentar zum allgemeinen Landrechte für die preußischen Staaten, Dr Gustav Alexander Bielitz, 5. Band, Erfurt, 1827
In gewissem Sinne war die "Ehe zur linken Hand" ein Vorläufer der Zivilehe. Vor ihrer gesetzlichen Festlegung wurde sogar überlegt, ob sie nicht ohne Hinzuziehung der Kirche vollzogen werden solle.
"Das preußische Landrecht wurde zu einer Zeit abgefaßt, von welcher man eine zarte Obsorge für christliche Gefühle nicht erwarten durfte. Aber das Bedürfniß nach einer Weihe des Ehebundes durch Gebet und Segnung haftete tief in dem Herzen der Bevölkerung; es war ihr als könne es ohne kirchliche Trauung keine Ehen sondern nur unreine Verbindungen geben. Zudem wurde von den Männern, die bei Abfassung des Gesetzes den leitenden Einfluß übten, anerkannt und ausgesprochen, der Staat dürfe der Ansicht als sey die Ehe ein bürgerliches Geschäft keinen Vorschub leisten. Das allgemeine Landrecht setzte also in §. 136 fest: „Eine vollgiltige Ehe wird durch die priesterliche Trauung vollzogen.“ Anfänglich war man geneigt für die Ehe zur linken Hand statt der kirchlichen Trauung eine Erklärung vor dem Landes-Justizcollegium oder einem Abgeordeneten desselben vorzuschreiben vorzüglich deshalb, um den Unterschied zwischen ihr und der vollgiltigen Ehe recht deutlich zu machen. Damit aber auf die Gattin zur linken Hand nicht der Schein eines unwürdigen Verhältnisses falle, entschloß man sich zuletzt, Eines und das Andere zu fordern, jedoch so, daß der Schwerpunct auf die kirchliche Trauung fiel, und §. 860 bestimmte: „Nach dieser Verlautbarung (nach der Erklärung vor dem Landes-Justizcollegium) muß die Ehe durch die wirkliche Trauung zur linken Hand vollzogen werden."
Die Ehe und das zweite Hauptstück des bürgerlichen Gesetzbuches, Joseph Othmar Kardinal Rauscher, 2. Auflage, 1868
Ich gebe zu, die Ehe zur linken Hand ist mir sympathischer als die gewöhnliche Ehe. Gütertrennung, Ehevertrag, den Namen behalten, das klingt ziemlich gut! Doch die Frauen damals schienen das anders zu sehen. Ihnen wurden bewusst Steine in den Weg gelegt, wenn sie ihre Ehe in eine gewöhnliche umwandeln lassen wollten.
"Die Verwandlung der Ehe in eine vollgültige war zulässig, jedoch damit den Anträgen der Frau, rechtmäßige Ehegattin zu werden, ein Zügel angelegt werde, nur nach landesherrlicher Erlaubniß."
Lehrbuch des Preußischen Privatrechts und der Privatrechtsnormen des Reichs, Dr. Heinrich Dernburg, 3. Band, 3. Auflage, 1884
Was war also der Anreiz für Frauen, eine "vollgültige" Ehe zu wollen? Zum einen dürfte die gesellschaftliche Sonderstellung als "Gattin zur linken" unangenehm gewesen sein, zum anderen waren die Kinder aus diesen Ehen benachteiligt, insbesondere was das Erbrecht anging.
"Kinder aus einer Ehe zur linken Hand führten nicht den Namen des Vaters, sondern den der Mutter und traten nicht in seine Familie, gehörten vielmehr der mütterlichen Familie an. Der Vater hatte die väterliche Gewalt über ihre Person, nicht über ihr Vermögen, er hatte dessen Verwaltung, aber nicht den Nießbrauch. Unterhalt und Erziehung konnten die Kinder nur nach dem Stande der Mutter beanspruchen. Hinterließ der Vater Kinder aus einer Ehe zur rechten Hand, so hatten die Kinder aus der linken Hand kein Erbtheil, und nur auf Erziehungs- und Ausstattungskosten gesetzlichen Anspruch. Waren keine Kinder aus rechter Ehe vorhanden, so erhielten die Kinder der linken Ehe ein Drittel; wenn mehr als drei solcher da waren, die Hälfte; wenn weder Verwandte des Erblassers bis zum sechsten Grade noch eine Ehefrau vorhanden waren, das Ganze des väterlichen Nachlasses. Ein Pflichttheilsrecht hatten solche Kinder nicht."
Lehrbuch des Preußischen Privatrechts und der Privatrechtsnormen des Reichs, Dr. Heinrich Dernburg, 3. Band, 3. Auflage, 1884
Das ist natürlich ein großes Manko der Ehe zur linken Hand. Dazu kamen im 19. Jahrhundert die biedermeierlichen Ansichten über die Rollenverteilung in der Familie. Das Patriarchat war zu dieser Zeit besonders stark ausgeprägt. Eine eigenverantwortliche, selbständige Ehefrau passte nicht in die Idealvorstellung der Leute. Statt also die Rechte der Frau und Kinder zu stärken, wurde die Ehe zur linken Hand abgeschafft.
"Die Ehe zur linken Hand entsprach weder den sittlichen und religiösen Anschauungen, noch den socialen Anforderungen der neuern Zeit und ist fast aus dem Leben verschwunden. Sie kann derzeit aber auch nicht mehr rechtsgültig eingegangen werden. Denn das Reichsgesetz vom 6. Febr. 1875 kennt nur eine vollgültige Ehe."
Lehrbuch des Preußischen Privatrechts und der Privatrechtsnormen des Reichs, Dr. Heinrich Dernburg, 3. Band, 3. Auflage, 1884
Schade drum.