Neulich habe ich davon berichtet, dass Eltern früher ihre Kinder nicht krabbeln ließen aus Angst, die Kleinen könnten sich so sehr daran gewöhnen, dass sie niemals gehen lernen würden. So absurd uns diese Vorstellung auch erscheinen mag, die Angst vor schädlicher Gewöhnung ist auch heute noch verbreitet.

Anscheinend hatten Eltern im 19.Jahrhundert jedoch solche Angst vor dem Krabbeln, dass deswegen der Gehfrei erfunden wurde. Lauflernhilfen dieser Art sind nun aber tatsächlich schädlich für die körperliche Entwicklung und gefährlich durch das Unfallrisiko. Das hatten einige kluge Köpfe auch damals schon erkannt.

In der Kinderstube wird das Gehen den Kindern mit unsäglicher Mühe früher beigebracht, als ihnen wegen des Knochenwachsthums zuträglich sein kann. Die Kinderlaufstühle und Gehkörbe, solche verfrühten Übungen begünstigend, sind verwerfliche Vorrichtungen, weil sie die Krummbeinigkeit verursachen helfen. Das Kriechen, die natürliche Vorschule des Gehens, wird nur zu häufig dem Kinde nicht gestattet, obwohl es zu seiner geistigen Ausbildung mächtig beiträgt. Denn die Freiheit, sich zu einem begehrten Gegenstande hinzubegeben, ihn zu besehen und zu betasten, hat das kriechende Kind weit früher, als das nur mit Unterstützung den Ort ändernde. Nur Vorurtheile, sogar Aberglaube, lassen in vielen Familien die Mütter den Kindern, ehe sie stehen können, das Kriechen verbieten, wenn nicht die eigene Bequemlichkeit, die Abneigung, das sich frei bewegende Kind zu bewachen, das ungerechtfertige Verbot veranlasst. Für die normale geistige Entwicklung des noch nicht einjährigen Kindes kann es nicht gleichgültig sein, ob es auf Stunden in einen Korb gepackt, in Tücher eingewickelt, an einen Stuhl gebunden wird, oder ob man ihm gestattet, frei auf einer Decke umherzukriechen, im Sommer im Freien, im Winter in der mässig geheizten Stube.

"Die Seele des Kindes - Beobachtungen über die geistige Entwicklung des Menschen in den ersten Lebensjahren", William Preyer, 1895

Leider haben sich die Lauflernhilfen bis heute gehalten. Die Stiftung Warentest riet erstmals 1997 vom Kauf jeglicher Lauflernhilfen ab. In Kanada sind sowohl der Verkauf als auch der Besitz von Lauflernhilfen seit 2004 verboten.