Das Erfinden der Behauptung, dass Schreien gut für die Lunge sei, wird vielfach Johanna Haarer zugeschrieben. Haarer schrieb den berüchtigten Ratgeber "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" und war von Beruf Lungenfachärztin. Vermutlich beruht der Irrtum auf ihrem Beruf, oder darauf, dass sie die einzige noch weitbekannte Ratgeberautorin aus den 1930ern ist. Jedenfalls war Haarer längst nicht die erste, die das Schreien von Babys als gut, gesund oder notwendig dargestellt hat.
Es begann mit dem allerersten Schrei nach der Geburt.
"Sobald der Mensch das Licht der Welt erblickt, ist Schreien das erste, was er thut, und wir schließen nichts weiter daraus, als daß er lebt. Anstatt uns darüber Sorge zu machen, freuen wir uns darüber, und das mit Recht, denn es zeigt Lebenskraft und freie Lungen. Eben so sollten wir es aber auch in der Folge machen, und diese laute Aeußerung seines Daseyns auch für ein ganz natürliches Zeichen seiner Existenz ansehen, das weiter gar nichts Bedenkliches bedeutet."
Guter Rath an Mütter, Christoph Wilhelm Hufeland, 1830
Es ist zwar verständlich, dass der erste Schrei nach der Geburt - und somit der eindeutige Beweis für das Füllen der Lungen mit Luft - seit jeher als gutes Zeichen gedeutet wurde. Doch wurde daraus vielfach die Folgerung gezogen, dass das Ausdehnen der Lungen auch im weiteren Säuglingsalter eine gute "Übung" sei. Als würde mit jedem Füllen bis zur vollen Kapazität durch Schreien die Lunge trainiert und gestärkt.
"Und was Sie hier bei unserem kleinen Wickelkinde 'auf seines Lebens erstem Gange' erfahren haben, daß es wichtig ist, ordentlich die Lungen mit Luft zu füllen, das gilt auch in seinem ganzen weiteren Leben."
Die Frau - was sie von Körper und Kind wissen muß, Dr. Wilhelm Liepmann, 1914
Für größere Kinder und auch für Erwachsene wurde zu Lungengymnastik in Form von Atemübungen geraten.
"Wir haben dir bereits an verschiedenen Stellen davon gesprochen, wie der Genuß der frischen Luft förderlich für das Gedeihen des kindlichen Körpers ist. Laß dich hier speziell erinnern, daß die Werkstätte des Atmens nur arbeiten kann, wenn sie reichliche Zufuhr von frischer Luft erhält. Täglicher Aufenthalt im Freien, im Sommer so viel als möglich, im Winter beschränkt nach Wind und Wetter, ist die beste Stärkung der Lungen. Eine vorzügliche Lungengymnastik ist das Singen. Ich habe in meiner Kinderstube die Anordnung getroffen, daß täglich morgens nach dem Aufstehen und abends vor dem Schlafengehen in frisch gelüftetem Zimmer, im Sommer am offenen Fenster sechs tiefe Atemzüge gemacht werden. Ich habe dieses Tiefatmen von meinem Vater gelernt und übernommen. Bekanntlich dringt bei oberflächlichem Atmen, wie es z. B. im Sitzen der Fall ist, weniger Sauerstoff in die Lunge, als dieselbe aufnehmen kann. Mein Vater hielt daher ein Ausdehnen der Lunge durch Tiefatmen für einen notwendigen Ausgleich. Seine vorzügliche Gesundheit bis ins hohe Alter nach einer durch mannigfache Lungenentzündungen getrübten Jugend ist gewiß mit dieser täglichen Lungengymastik zu verdanken. Ich gebe dir, liebe Leserin, diese Erfahrung und Anregung zu einem Versuche weiter."
Lexikon der Kinderstube, J. v. Wedell, ca 1890
Nun ist es ja nicht gerade einfach, einen Säugling im Atmen anzuleiten, aber "glücklicherweise" schreit er ja gerne.
" (...) denn in sehr vielen Fällen ist es [das Schreien] nichts weiter, als das Bestreben, die Kräfte der Lungen und der Respirationswerkzeuge zu äußern; und nicht umsonst hat die Natur dieses Bestreben in das Kind gelegt, denn eben dadurch wird die Kraft und Brauchbarkeit des Organs entwickelt und vervollkommt"
Guter Rath an Mütter, Christoph Wilhelm Hufeland, 1830
Keine 50 Jahre später geht Klencke noch weiter als Hufeland. Für ihn ist das Schreien nicht nur ein Bedürfnis des Kindes, sondern gleich eine Freizeitbeschäftigung.
"Das natürliche Schreien des Kindes - und wir werden noch sagen, woran man dieses erkennen kann - ist ein Bedürfniß für dasselbe und gereicht darum zum Nutzen seiner Lebensentwicklung. In erster Zeit ist das Schreien nichts anderes als das Bestreben, Lebenskraft zu äußern, seinem Kraft- und Daseinsgefühle einen Ausdruck durch Bewegung zu geben, wie ein älteres Kind dies durch Singen, Hüpfen und alle Arten von Muskelactionen ausdrückt. Das kleine Kind hat aber keine anderen willkürlichen Bewegungen als die der Brust-, Kehl- und Bauchmuskeln, also der Bewegungsorgane des Athmens; diese bethätigt es und sein Ausathmen wird zum Schrei. - Durch diese Kraftäußerung werden aber die Athmungsorgane geübt und gestärkt, durch die vermehrte Bewegung derselben im Schreien werden drückende Gefühle und Stockungen in den Lungen, Schleimanhäufungen in den Zweigen der Luftröhre aufgehoben, es wird der Blutumlauf, und durch Mitwirkung der Bauchmuskeln und des Zwerchfelles, die Verdauungsthätigkeit gefördert, die Luftentwicklung (Blähung) mit deren Folgen vertrieben, eine Hemmung der Bewegung der Säfte in äußeren Körpertheilen, die bei kleinen Kindern oft mit der Empfindung der Unbehaglichkeit stattfindet, mittelst der verstärkten Circulation beseitigt. So ist das Schreien nützlich und nothwendig."
Die Mutter als Erzieherin, Hermann Klencke, 1875
Wäre das Schreien wirklich so super-gut, hätte man es dann nicht fördern sollen? Zu dumm aber auch, dass es nicht schön anzuhören ist und die Eltern ihr Kind lieber ruhig hätten. Da kommt den Eltern zu Gute, dass das Baby sein Schreien bald aufgibt. Hat es nun resigniert und gelernt, dass es hilflos ist auf dieser Welt, oder ist es nur fertig mit seinen Lungenübungen? Keine Frage für Dr. Ziegelroth.
"Schreien ist eine ganz gute Lungengymnastik und der kleine Weltbürger gewöhnt sich das unnötige Schreien schnell ab, wenn er merkt, daß man es nicht allzu tragisch nimmt."
A-B-C für junge Mütter, Dr. Simon Ziegelroth, 1914
Ziegelroth war der Naturheilkunde verschworen, aber auch der Vollblut-Mediziner Liepmann, der von Naturheilkunde nicht viel hielt, fand "Lungengymnastik" prima.
"An sich schadet es gar nichts, wenn der kleine Liebling sich einmal beim Schreien ordentlich die Lungen voll Luft pumpt, das ist eine Art von naturgewollter Lungengymnastik."
Die Frau - was sie von Körper und Kind wissen muß, Dr. Wilhelm Liepmann, 1914
Es gab noch einen weiteren Wandel in der Darstellung der "Lungenkräftigung". Wo Hufeland seine Leser'innen noch beruhigen wollte, dass es okay ist, wenn Babys schreien, da galt hundert Jahre später: "Kinder soll man sehen, nicht hören". Schreien sollte aberzogen werden dadurch, dass man es ignorierte. Das setzte sich bis weit in die Nachkriegszeit fort.
"Ein gesunder, gut erzogener Säugling schreit sehr wenig. Die Mutter erkennt auch bald, ob es aus Langeweile, Zorn, Hunger, Schmerz, Vergnügen oder wegen Kälte, Hitze, grellem Licht, Naßliegen geschieht. Außerdem gibt es unter den Säuglingen Schreihälse aus Veranlagung (Charakterveranlagung).
Schreit das Kind aus Lust, Langeweile oder Zorn, läßt man es ruhig geschehen, es kräftigt die Lunge."Mutter und Säugling in gesunden und kranken Tagen, Helene Howad, 1954
Hier wird die Kräftigung der Lunge nur noch lapidar nebenbei erwähnt. Sie wird benutzt, um das Schreienlassen zu verharmlosen, so dass die Eltern sich einreden können, dass es sei zu Babys Bestem.
Selbst heute hört man vereinzelt noch "Schreien kräftigt die Lunge" oder die Aufforderung, Babys schreien zu lassen. Wurde so etwas zu dir auch gesagt? Wie hast du reagiert? Schreib mir einen Kommentar bei Patreon.