Teil 4 - "Die Mutter und ihr erstes Kind" und andere Nachkriegsratgeber

Stell dir vor, es ist 1987, Du suchst nach einem Buch über Säuglingspflege und hältst in der Buchhandlung einen Ratgeber in der Hand, der modern aufgemacht ist und auf dem Titel wirbt mit "Über 1 Million verkaufte Exemplare". Würdest Du auf den Gedanken kommen, dass knapp 3/4 dieser Auflagenhöhe vor 1945 erschienen ist?

Die erste Nachkriegsauflage von "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" erschien - um die offensichtliche Propaganda gekürzt - im Jahr 1949. Danach wurde das Buch mehrfach überarbeitet. Dabei wurde die Sprache immer mehr abgemildert. Das verdeutlicht Prof. Dr. Theodor Schulze 1969 in der ZEIT in seinem Artikel "Eltern im Babyalter – Bücher über Mutter und Kind, kritisch gelesenen":

"Die neue Auflage enthält in bezug auf pädagogische Probleme einige bemerkenswerte Verbesserungen: Statt "Seien Sie immer konsequent!" heißt es jetzt "Seien Sie niemals starr!"."

Das anbiedernde "du, liebe Mutter," aus den vorherigen Ausgaben wurde offensichtlich auch abgelegt.

In seinem Artikel vergleicht Schulze fünf verschiedene Ratgeber miteinander. Eines davon ist "Alles über dein Kind", das mir in der Auflage von 1972 vorliegt. Schulze schreibt: "Elternbücher, die ein so ausgewogenes Verhältnis von Freiheit und Ordnung vertreten wie dieses, sind in Deutschland selten." Es lohnt sich also, dieses Werk dahingehend zu betrachten, wie weit es von der NS-Erziehung entfernt ist. Wir erinnern uns, dass das Neugeborene in der NS-Erziehung vom ersten Tag an nachts nicht beachtet werden sollte. Des weiteren war eine fester Zeitplan das A und O der Erziehung. Wie stehen die Autoren von "Alles über dein Kind" zu diesen Punkten?

"Von vornherein, so heißt es in den meisten Anweisungen für die Aufzucht von Kindern, soll eine achtstündige Nachtruhe eingelegt werden. Es zeigt sich aber, daß dies nicht ohne weiteres immer möglich und bestimmt auch nicht natürlich ist. Es gibt eine ganze Reihe von Kindern, die sich nur langsam auf den Tag- und Nachtrythmus einstellen. Selbstverständlich muß unser Bestreben sein, das Kind so bald als möglich in einen geregelten Tageslauf einzuordnen. Es muß aber davor gewarnt werden, dies durch heroische Maßnahmen erzwingen zu wollen. Sehr viele Mütter glauben richtig zu handeln, wenn sie ihr neugeborenes Kind sozusagen vom ersten Tag an nachts abseits stellen und es dort sich selbst überlassen, ohne Rücksicht darauf, ob es nachts weint oder nicht. Wenn es auch natürlich falsch ist, bei jeder Regung des Kindes in der Nacht sofort aufzuspringen und das Kind aufzunehmen oder zu füttern, so ist es ebenso falsch, ein Kind in den ersten Wochen nachts stundenlang weinen zu lassen. Das ist sowohl für das Kind unzweckmäßig wie auch für die Mutter schädlich. Sie selbst schläft während dieser Zeit ebenfalls nicht und liegt natürlich voller Unruhe im Bett." S.41f

"Regelmäßigkeit im Tagesablauf ist eine besonders wichtige Regel für die Säuglingspflege. Die Ruhe des jungen Säuglings vor allem soll möglichst wenig gestört werden, deshalb stellt man das Bettchen am besten in einen eigenen Raum, der gut zu lüften und der sonnig ist.  (...)
Die erste Regelmäßigkeit im Tagesablauf soll durch die Mahlzeiten eingeführt werden. Etwa mit Vollendung des ersten Lebensmonats sollen diese Mahlzeiten stets pünktlich eingehalten werden, nicht nur um ein gleichmäßiges Gedeihen zu erreichen, sondern um das Kind an eine bestimmte Tageseinteilung zu gewöhnen." S.71

"Bei allen Kindern gelingt es, bei den einen schon verhältnismäßig bald, bei den anderen erst nach vierzehn Tagen bis drei Wochen, eine regelmäßige Mahlzeitenfolge zu erzielen." S.34

Die drei Autoren Prof. Dr. Kurt Hofmeier, Prof. Dr. Werner Schwidder und Dr. Friedrich Müller sind also von der Wichtigkeit eines fest geregelten Tagesablaufs überzeugt. Sie fordern diesen lediglich nicht in den ersten paar Wochen, sehr ähnlich den Ratgebern um die Jahrhundertwende. Was sie allerdings wirklich von bisherigen Ratgebern abgrenzt, ist die Einsicht, dass Nähe dem Säugling ein Bedürfnis ist. Sie sprechen sich für Rooming-In aus und schreiben:

"Für eine gesunde seelische und charakterliche Entwicklung sollte ein Kind im ersten Lebensjahr möglichst viele Befriedigungs- und wenig Entbehrungserlebnisse haben." S.91

Bessere Startbedingungen im Krankenhaus solllten aber noch eine ganze Weile Wunschdenken bleiben. Die meisten Lehrbücher und Lehrenden hatten zu dieser Zeit eben noch ganz andere Ansichten. Ein Standardwerk für die Ausbildung zur Säuglings- und Kinderkrankenschwester war "Die Pflege des gesunden und des kranken Kindes" von Prof. Dr. med. Werner Catel. Die achte Auflage erschien 1964. An den folgenden Auszügen können wir erkennen, wie die Realität in deutschen Krankenhäusern zu dieser Zeit noch aussah.

"Am 2. Lebenstage wird das Neugeborene zum erstenmal an die Brust der Mutter gelegt. Es geschieht dies fortan fünfmal am Tage, stets zu denselben Tagesstunden, im Abstand von 4 Stunden. Die erste Mahlzeit soll morgens um 6 Uhr, die letzte abends um 21 oder 22 Uhr verabfolgt werden. Auf das Innehalten der achtstündigen Nachtpause, die für Mutter und Kind in gleicher Weise wichtig ist, soll von Anfang an streng geachtet werden. Schwächliche Kinder können in den ersten Lebenswochen sechsmal am Tage, d. h. in dreistündigem Intervall, gestillt werden." S.173

Catel reguliert auch die Dauer der einzelnen Mahlzeiten und bestimmt, dass pro Mahlzeit nur eine Brust gegeben werden soll, welche nach der Mahlzeit noch manuel "vollständig entleert" wird. Das entspricht der Vorgehensweise in der NS-Erziehung.

Das Kind ist für Catel nicht in der Lage, für sich selbst zu entscheiden, weil ihm das Wissen der Erwachsenen fehlt. Da waren sie in anderen Ländern schon weiter als bei uns.

"Im Gegensatz zu der in manchen Ländern herrschenden Ansicht, z.B. der in den Vereinigten Staaten verbreiteten Lehre des "self-demand-feeding" haben wir die Meinung, daß (hauptsächlich bei der Nahrungsaufnahme) nicht die Wünsche des noch unerfahrenen Kindes das Handeln der Eltern bestimmen dürfen, sondern daß das Kind von Anbeginn an liebevoll, aber konsequent geführt werden und frühzeitig lernen soll, sich dem Willen und den Anordnungen des Erziehers einzufügen." S.266

Catels Lehrbuch wurde hingegen 1954 ins Spanische übersetzt.

Auch in Sachen Herumtragen, eigenes Bett, Laufstall und Beschäftigung mit dem Baby liegt Catel mit Haarer und Co auf einer Linie. Er macht deutlich, was Erziehung für ihn bedeutet.

"Die Erziehung zur Sauberkeit ist, wie alle Erziehung beim Säugling, die dressurartige Gewöhnung an eine regelmäßig unter stets gleichen Umständen erfolgende Maßnahme." S.256

Nach all diesen Dingen, wundert es dich sicher nicht, wenn ich dir sage, dass die Erstausgabe dieses Lehrbuchs 1939 erschienen ist. Es fehlt nicht einmal der typische Seitenhieb auf die Großmütter.

"Das schlecht essende Kind ist meist das einzige Kind einer Ehe, in der beide Eltern berufstätig sind, so daß die Aufzucht desselben in der Hand einer Großmutter oder einer familienfremden Pflegerin liegt, die das Kind allzu häufig verwöhnen, d. h. ihm seinen Willen lassen und jeden seiner Wünsche erfüllen. Vielfach handelt es sich um ein psycholabiles Kleinkind, bei dem sich als Folgen der Fehlerziehung nicht nur Störungen der Nahrungsaufnahme, sondern auch andere funktionelle Störungen, beispielsweise Bettnässen, schlechter, unruhiger Schlaf oder eine abnorme Magentätigkeit (Durchfall, Verstopfung) einstellen." S.267

Catel "heilt" das Kind vom schwierigen Essverhalten, indem er es hungern lässt. Aber wenn das Kleinkind dann anfängt zu essen, ist die Tortur noch nicht überstanden.

"Bereitet die Fütterung Schwierigkeiten und nimmt sie mehr als etwa 10 Minuten in Anspruch, so wird sie nach dieser Zeit abgebrochen und die nächste auf keinen Fall zwischendurch, sondern erst nach ordnungsgemäßer Pause vorgenommen, selbst wenn das Kind zwischenzeitlich über Hunger klagt. Es muß bei ihm der Eindruck entstehen, daß es für die Pflegeperson völlig uninteressant ist, ob es gut oder schlecht oder überhaupt nicht ißt. Dann hat der Erzieher gewonnenes Spiel. Jede Anwendung von Gewalt, jedes Bestrafen und jede Belobigung ist ein grober pädagogischer Fehler, der unter allen Umständen vermieden werden muß. Das Kind soll erkennen, daß jede Auflehnung gegen den 'Stärkeren' nutzlos ist, der 'Stärkere" soll wissen, daß es unter den Kindern Spar- und Verschwendernaturen gibt, d. h. solche, die mit einem relativ geringen Nahrungsquantum auskommen, und solche, die viel benötigen." S.268

Das wichtigste, was es über Werner Catel zu sagen gibt, ist allerdings, dass er im Dritten Reich an der Euthanasie von Kindern beteiligt gewesen war. Noch in den 1960ern befürwortete er die Tötung geistig behinderter Kinder. Dennoch durfte er nach dem Krieg weiter praktizieren und lehren. Erst 1960 wurde er nach öffentlichem Druck frühzeitig emeritiert. Johanna Haarer hingegen war das Praktizieren aufgrund ihrer Vergangenheit von den Alliierten verboten worden. Sie arbeitete im Gesundheitsamt und veröffentlichte weitere Bücher, die nichts mit Säuglingspflege zu tun hatten.

Wir haben hier also eine Fortsetzung der NS-Erziehung in Form der Ausbildung von medizinischem Fachpersonal. Dies zu einer Zeit, in der die meisten Babys im Krankenhaus geboren wurden, und die Mütter dort meist eine Woche blieben. Die Babys wurden den Müttern nur zu festen Zeiten zum Stillen gebracht. Wenn sie nach Hause gingen, waren sie also meist schon durch Schreienlassen an einen Rhythmus gewöhnt worden. Zudem musste den Müttern der Umgang mit dem Baby erst einmal beigebracht werden.

"In den letzten Tagen des Klinikaufenthaltes muß sich die junge Mutter mit den Lebensgewohnheiten ihres Kindes vertraut machen, mit dem Arzt und der Säuglingsschwester die zweckmäßige Nahrungsart und -menge besprechen und sich in die zur Pflege des Kindes notwendigen praktischen Handgriffe einweisen lassen. Geburts- und Entlassungsgewicht sind aufzuschreiben, jede Mutter hat Anspruch zu erfahren, ob ihr Kind durchschläft oder häufig schreit und ob, wenn es geschrien hat, in der Nacht dem Kind Nahrung gereicht wurde. Wir raten jeder jungen Mutter, die Pflege ihres Kindes, wenigstens in den ersten Lebensmonaten, selbst durchzuführen, um eine möglichst enge Bindung zwischen sich und dem Kinde herzustellen aus der Erfahrung heraus, wie tief die Freude der Mutter ist, wenn sie in eigener Hingabe an ihr Neugeborenes die ersten Lebensregungen und die Zuneigung des Kindes erwachen und aufblühen sieht."
Mutter und Kind - Eine Anleitung zur Säuglingspflege, überreicht vom Standesamt, Prof. Dr. Erich Graser, 1959

Nun sind diese Voraussetzungen natürlich eine Gefahr für die Mutter-Kind-Bindung. Zudem hatten Ärzte in den 1950ern und 1960ern noch eine große Autorität, der viele Mütter nicht zu widersprechen wagten. Dennoch heißt dies nicht, dass sie sich im Privaten an alle strengen Regeln gehalten haben. Um die Stimmung unter den Eltern zu dieser Zeit beurteilen zu können, müssen wir also noch weitere Erziehungsratgeber betrachten.

Mutter und Kind

Dr. med. Hannah Uflacker.
1. Auflage April 1956
5. Auflage Januar 1957 (65.000 Exemplare)

Dass dieses Buch ein Geleitwort von Werner Catel hat, lässt nichts gutes erahnen. Gehen wir die wichtigsten Punkte - Schlafen, Stillen, Tagesablauf - durch. Die Zitate stammen aus der 5. Auflage.

"Der ausgetragene Säugling mit normalem Gewicht soll innerhalb 24 Stunden 5 Mahlzeiten bekommen. Die Phasen zwischen den Mahlzeiten sollen tagsüber 4 und nachts 8 Stunden betragen. (...)
Zu Beginn des Stillens ist es oft schwierig, zu erreichen, daß der Säugling die achttündige Nahrungspause während der Nacht einhält. Meist wurd er um 2 Ihr nachts wach und schreit, da er an den vierstündigen Tagesrhythmus gewöhnt ist. Wenn es sich um ein kräftiges Kind handelt, ist es das beste, es schreien zu lassen. Bei ungünstigen Wohnverhältnissen ist das aber oft unmöglich, vor allem, wenn mehrere Familienmitglieder mit dem Säugling in einem Raum schlafen. In den ersten Lebenswochen kann man dann die letzte Mahlzeit etwas später, um 23 Uhr, und die erste früher, zwischen 4 und 5 Uhr morgens, geben. Allmählich rückt man beide Mahlzeiten weiter auseinander bis zum normalen Zeitpunkt. Dadurch wird die Nachtruhe von Mutter und Kind zwar etwas verkürzt, aber es ist immer noch besser, als wenn nachts noch eine Mahlzeit eingelegt wird.
Kommt man auf solche Weise nicht zum Ziel, so darf auf ärztliches Verordnen abends im Anschluß an die letzte Mahlzeit ein leichtes Beruhigungsmittel gegeben werden. Nach 2-3 Tagen wird die Nachtpause in der Regel auch ohne diese eingehalten. Beruhigungsmittel dürfen niemals über längere Zeit gegeben werden." S.108

Dass feste Zeiten wichtig sind, war ja zu erwarten. Immerhin wird der Tagesplan als Empfehlung und nicht als Vorgabe dargestellt.

"Vor weiterer Besprechung einzelner Pflegemaßnahmen soll noch ein Vorschlag für die Tageseinteilung, so wie sie im Haushalt im allgemeinen am besten durchführbar ist, gegeben werden. Es darf nicht übersehen werden, daß die Versorgung des Ehemannes und der evtl. schon vorhandenen älteren Geschwister des Säuglings sowie die Sauberhaltung der Wohnräume Zeit und Kräfte der Mutter zusätzlich beanspruchen. Für die ersten Wochen nach der Entbindung ist es sehr empfehlenswert, wenn der Mutter für die Hausarbeit eine Hilfskraft zur Verfügung steht, damit sie sich nicht überanstrengt und der Säugling zu seinem Recht kommt. Ist das unmöglich, so muß der Ehemann neben seiner Berufsarbeit noch einige Pflichten im Haushalt übernehmen, vorallem diejenigen, die mit schwerer körperlicher Arbeit, wie Heben und Tragen, verbunden sind." S.151

"Dieser Plan ist selbstverständlich nur als Anregung gedacht. Er kann von der Mutter ganz ihren eigenen Bedürfnissen entsprechend geändert werden. Es ist aber auf alle Fälle gut, sich einen festen Tagesplan zu machen und ihn auch einzuhalten. Vielerlei Anforderungen stellt der Tag an die junge Mutter. Durch geschickte Zeiteinteilung kann sie allem gerecht werden und ab und zu noch ein Stündchen für die eigenen Erholung finden, deren sie vor allem in den ersten Wochen nach der Entbindung dringend bedarf." S.153

Wir sehen also, dass Uflacker zwar aus derselben Richtung kommt wie Catel, der Mutter aber mehr Gestaltungsspielraum lässt.

Unfallhilfe, Krankenbetreuung, Säuglingspflege in der Familie

Anneliese Blendermann, Gewerbelehrerin für hauswirtschaftliche Berufs- und Fachschulen, Lehrerin am Staatlichen hauswirtschaftl. Seminar Kirchheim/Teck.
1948
Mundus Verlag, Stuttgart
Genehmigt für den Gebrauch in Schulen durch Education and Religious Affairs Branch, Office of Military Goverment (U. S.)

"Das Schlafen ist neben dem Trinken ja die Hauptbeschäftigung des Säuglings. Je regelmäßiger er zu beidem kommt, um so besser. Wir müssen also die Trinkzeiten genau einhalten. Er bekommt zunächst in den meisten Fällen fünf Mahlzeiten mit je vierstündiger und nachts einmal einer achtstündigen Pause. So ergeben sich die folgenden Trinkzeiten:

morgens 6 Uhr,
  10 Uhr,
nachmittags 14 Uhr,
abends 18 Uhr,
  22 Uhr.

Nur ganz zarte Säuglinge bekommen sechs Mahlzeiten. Besonders wichtig ist die ununterbrochene Nachtruhe. Selbst wenn das Kind nachts sehr unruhig sein sollte, darf ihm doch die Mutter nicht mit der Brust oder dem Schoppen das Mäulichen stopfen. Vielleicht liegt es auch nur naß oder zu unbequem auf einer Falte. Sie wird es trockenlegen und frisch betten, und das wird oft schon genug helfen. Vielleicht muß man auch das Kind einmal aufstoßen lassen, weil es noch von unnötig bei der letzten Mahlzeit mitverschluckter Luft gequält wird. In Ausnahmefällen könnte man ihm einige Löffel von süßstoffgesüßtem Tee geben. Eine Flasche gibt man absichtlich nie, damit der Säugling sich nicht um diese ungewohnte Zeit an das Saugen gewöhnt. jedenfalls muß die achtstündige Nachtpause zwischen den gewohnten Mahlzeiten unbedingt eingehalten werden. Je pünktlicher der Säugling von klein auf erzogen wird, um so besser für ihn und seine Pflegerin. Die Erziehung kann nicht früh genug beginnen. Wir werden das auch noch bei anderen Gewöhnungen sehen. Kinder, die nachts sehr unruhig sind, kann man versuchsweise auch einmal abends vor der letzten Mahlzeit baden, um sie dadurch für die Nacht müde zu machen." S.77f

Sobald es wieder um Ausbildung geht, werden die Regeln strenger.

Säuglingspflege

Untertitel: Ratschläge zur Pflege und Erziehung des Säuglings und des Kleinkindes
Dr. G. Kreislisheim-Saxl, Dr. O. Kurz
Tagblatt-Bibliothek im Globus Verlag, Wien
1951

"Verwöhnen: Hat ein Kind Beschwerden, sagen wir Bauchschmerzen oder eine Erkältung, so versucht man es zu beruhigen, indem man es ein wenig herumträgt und mit ihm spielt. Hebt man ein Kind aber immer auf, auch wenn es ein bißchen 'piepst', so wird man es verwöhnen. Wenn ein Kind viel schreit und weder die Mutter noch der Arzt sich erklären können, warum es schreit, wird man es eben scheien lassen. So unangenehm dieses Schreien auch für die Familie sein mag, so sehr muß man sich doch gedulden. Nach einigen Wochen wächst jedes Neugeborene aus diesem Stadium heraus." S.84

"Den ersten Stillversuch macht man gewöhnlich 24 Stunden nach der Entbindung, wobei das Kind nur für 5 oder 10 Minuten angelegt wird. 12 Stunden nach der Geburt enthält die Brust nur das sogenannte Kolostrum, das ist die Vormilch, die noch keine vollwertige Milch ist." S.24

"Gewöhnlich gibt man dem Kind zu jeder Mahlzeit nur eine Brust. Ist in einer Brust nicht genügend Milch, so wird es sich empfehlen, zu jeder Mahlzeit beide Brüste zu geben, und zwar etwa 10 bis 15 Minuten lang die eine und 10 Minuten lang die zweite, wobei man darauf achten muß, daß diie Brüste abwechselnd gegeben werden." S.26

"In welchen Zeitabschnitten soll man stillen? Man beginnt im allgemeinen, das Kind alle 3 Stunden zu füttern und stellt sich später, wenn es etwa 4 kg wiegt, auf die 4stündliche Mahlzeit ein. Hat das Kind ein Geburtsgewicht von 2750 bis 4000 Gramm, so kann die Mutter von vornherein 4stündlich nähren. Wenn das Kind während der ersten Wochen nachts schreit, so ist das häufig ein Zeichen dafür, daß es Hunger hat. Gibt man ihm dann nur Tee, so wird es meistens nur für kurze Zeit einschlafen, und die Familie wird nicht zur Ruhe kommen. Es ist deshalb besser für das Kind und auch viel bequemer für die Mutter, wenn sie dem Kind auch nachts eine Mahlzeit gibt. Im Laufe der Zeit wird das Kind zu immer späterer Nachtstunde auswachen, und wird sich zwischen der 6. Woche und dem 3. Monat gewöhnen, die Nacht durchzuschlafen. Die Mutter soll jedenfalls, bevor sie schlafen geht, zwischen 9 und 11 Uhr abends das Kind wecken und stillen. In den ersten Monaten ist es nicht unbedingt nötig, das Kind ganz genau nach der Uhr zu füttern. Wenn das Kind statt nach 3 Stunden nach 3 1/2 bis 4 Stunden aufwacht, soll man auch mit der Mahlzeit warten. Wacht es aber früher auf, so kann man es schon nach 2 1/2 Stunden füttern. Der Abstand zwischen zwei Mahlzeiten soll allerdings nicht geringer als 2 1/2 Stunden sein, weil es sonst zu Magenverstimmungen kommen kann. Nach einigen Wochen wird sich das gesunde Kind von selbst auf regelmäßige Zeitabstände einstellen." S.27

"Gehorsam: Verbote sind beim kleinen Kind unter 2 Jahren häufig unwirksam. Trotzdem kann man auch kleinen Kindern nicht alles erlauben. Anstatt ihnen etwas zu verbieten, versuche man lieber, sie durch eine andere Beschäftigung von der nicht gewünschten Tätigkeit abzulenken. Allerdings gibt es Situationen, in denen man weder durch Ablenken noch durch Zureden etwas erreichen wird. Wie wird man also doch dem Kind klarmachen, dass man ihm in einer bestimmten Sache nicht nachgeben will? Da empfiehlt es sich, wasch und entschlossen zu handeln. Will ein Kind z.B. einen zerbrechlichen Gegenstand nicht hergeben, so nimmt man ihm diesen schnell weg; will ein Kind nicht über die Straße gehen, so tragt man es rasch hinüber, selbst wenn es einige Minuten schreit." S.107f

"Das Bestrafen: Erzieht man ein Kind vernünftig, wird es nur selten notwendig sein, es zu strafen. Die Strafe ist, richtig angewendet, ein Mittel der Erziehung. Die Einordnung des Kindes in die menschliche Gemeinschaft geht nicht ganz ohne Zwang vonstatten. Diese Einordnung muß früh einsetzen, zu einem Zeitpunkt, wo das Kind die Führung durch die Erwachsenen braucht, weil es noch nicht reif genug ist, sich ohne diese Führung in die Gemeinschaft einzufügen. (...) Man bestraft zunächst nicht zu streng und wird nicht 'ungerecht'. Sehr oft genügt schon ein Blick oder eine kline Drohung mit dem Finger, um das Kind, das im Begriffe ist, etwas anzustellen, auf den richtigen Weg zu weisen. (...) Man hüte sich jedoch davor, das Kind durch eine Strafe zu erniedrigen. So klein ein Kind auch sein mag, so sehr empfindet es doch die Erniedriegung der körperlichen Züchtigung. Unter gar keinen Umständen ist das Schlagen ein Erziehungsmittel." S.108ff

Hier sehen wir einen wesentlich entspannteren Umgang mit dem Tagesplan für Säuglinge. Die Ablehnung jeglicher körperlicher Strafe ist auffallend. Das ist eine komplette Abkehr selbst von der preußischen Erziehung. Liegt es daran, dass dieses Buch aus Österreich stammt?

Mutter und Säugling in gesunden und kranken Tagen

Helene Howad
Franz Deuticke Verlag, Wien
1954

Auch dieser Ratgeber stammt aus Österreich. Er zeigt uns, dass der Inhalt der Ratgeber von den Autor'innen abhing. Im gesamten deutschsprachigen Raum gab es solche und solche. Und obwohl dieses Buch vier Jahre nach dem vorgenannten erschien, war es inhaltlich Haarers Buch extrem ähnlich.

"Ein gesunder, gut erzogener Säugling schreit sehr wenig. Die Mutter erkennt auch bald, ob es aus Langeweile, Zorn, Hunger, Schmerz, Vergnügen oder wegen Kälte, Hitze, grellem Licht, Naßliegen geschieht. Außerdem gibt es unter den Säuglingen Schreihälse aus Veranlagung (Charakterveranlagung).
Schreit das Kind aus Lust, Langeweile oder Zorn, läßt man es ruhig geschehen, es kräftigt die Lunge. Hat das Kind Hunger und die Zeit der Nahrungsaufnahme ist noch fern, hüte man sich, diese vorzuverlegen. Man gibt eventuell, wenn man es als notwendig betrachtet, ein paar Löffel Kamillentee (für Brustkinder mit Sacharin gesüßt). Liegt das Kind naß, wird es selbstverständlich umgewickelt. Niemals aber soll ein Kind, wenn es schreit, herumgetragen oder geschaukelt werden (Verwöhnung)." S.73

"Erziehen heißt: wachsen lassen und führen. Das Kind braucht zu seiner seelisch-geistigen Entfaltung viel Liebe, Geduld und eine Erzieherpersönlichkeit. Miterzieher, besonders dann, wenn sie mit dem Haupterzieher nicht einig sind, lehnen wir entschieden ab. Ein Zuviel an Liebe, das wir als "Affenliebe" kennen, ist ebenso schlecht wie Lieblosigkeit. Sie erzieht zu Brutalität, Gemeinheit, Tyrannei oder zur Unselbständigkeit und somit zur Lebensuntüchtigkeit." S.126

"Lob ist gut, weil es ermuntert, aber nicht zu oft, nur für besondere Leistungen. Das Kind soll auch nicht bewundert werden, weil das zu Stolz erzieht.
(...)
Gehorsam wird schon dem ganz kleinen Kinde beigebracht, wie ja überhaupt die Erziehung in den ersten drei Lebensjahren von ausschlaggebender Bedeutung für den heranreifenden Menschen ist. Was hier versäumt wird, ist nie mehr aufzuholen.
(...)
Alle Wünsche werden dem Kinde absichtlich nicht erfüllt, weil dies blasiert und freudlos machen würde, und weil das Kind, anstatt zu bitten, fordern lernte.
Das Kind redet nur, wenn es gefragt wird, es darf niemals im Sprechen unterbrechen." S.127

Die Pflege deines Kindes in gesunden und in kranken Tagen

Dr med. Hans Schlack, Kinderarzt in Stuttgart
1955
Paracelsus Verlag, Stuttgart

Auch diese Neuerscheinung aus den 1950ern hat einen sehr ähnlichen Ton wie Johanna Haarer.

"Die Nachtpause von 22 Uhr bis etwa 6 Uhr ist nachdrücklich anzustreben. Oft meldet sich das Kind anfänglich nach Mitternacht. Man versuche, dies unbeachtet zu lassen. Wenn nicht möglich, lege man unter Einhaltung strengster Sachlichkeit und Kürze das Kind trocken und gebe ihm ungesüßten Fencheltee. Unter besonderen Umständen kann vom Arzt bei Krankheit oder Untergewicht als Ausnahme eine Nachtmahlzeit für nötig gefunden werden. Doch sorge man, daß die Zehnuhrmahlzeit auch wirklich ausreichend sei; manchmal hilft ein Flaschenbrei als letzte Mahlzeit, die Nachtruhe zu sichern." S.10

"Der normale und gesunde Säugling liegt ruhig und zufrieden in seinem Bettchen und schreit nur, wenn er naß liegt, sich kalt fühlt oder Hunger hat. Später, mit zunehmendem Erwachen des Bewußtseins, ist ihm oft offensichtlich behaglich zumute, er lächelt, wenn man sich mit ihm abgibt, wird aber vielfach recht anspruchsvoll, wenn man zuviel des Guten tut. Das Vorhandensein einer eigenen Pflegeperson ist kein Grund, daß diese sich ausschließlich mit dem Kinde den ganzen Tag abgibt. Man störe das Kind nicht unnötig in seiner Ruhe und seiner Selbstbeschäftigung." S.19

Fazit

Bis in die 1970er hinein war Erziehung geprägt von Gehorsam und festen Tagesplänen. Neue Ansätze, die ohne Strafen auskommen und die Bedürfnisse des Kindes achten wollten, kamen in Nischen neben dieser Erziehung auf. Antiautoritäre Erziehung, Laissez Faire, später dann Attachment Parenting und in neuerer Zeit Bindungsorientierte Erziehung und weitere Konzepte wurden immer nur von einer Randgruppe ausgeübt. Der Mainstream war bis vor wenigen Jahren noch von Essensplänen und Durchschlafen beherrscht. Noch heute ecken junge Eltern bei ihren eigenen Eltern und außerhalb ihrer Familie an, wenn sie bedürfnisorientiert erziehen wollen. Nicht umsonst ist meine Liste der 10 nervigsten Erziehungssprüche (samt passender Antworten) der meist-geteilte Beitrag aus diesem Blog. Jede'r kennt die Situation, mit alten Ansichten konfrontiert zu werden. Nicht selten führt das zu echtem Streit in den Familien.

Ja, Johanna Haarers Ratgeber war erfolgreich. Aber wäre irgendetwas anders gelaufen, wenn es ihn nicht gegeben hätte? Ich denke nicht.

Leider sind heutzutage vielerorts die Nazis und Faschisten wieder auf dem Vormarsch. Die Gefahr, die davon für uns alle ausgeht, darf nicht unterschätzt werden.

Heutige Nazis nutzen aber keine Schwarze Pädagogik. Denn auch sie haben verstanden, dass damit die Psyche kaputt gemacht wird. Sie halten sich für überlegen. Warum sollten sie ihre Nachkommen schwächen wollen? Sie nutzen auch keine preußische Erziehung. Vielmehr nutzen sie gerne den bindungsorientierten Ansatz, um die Frau auf ihre Mutterrolle zu reduzieren, und die Kinder zu eingeschweißten Verbündeten zu machen. Darum ist es wichtig zu wissen, wie ihre Maschen erkannt werden können.

Wenn nun im öffentlichen Dialog darauf beharrt wird, immer wieder auf "Nazi-Erziehung" und Johanna Haarer hinzuweisen, spielen wir den heutigen Faschisten in die Hände. In den meisten Köpfen hat sich verankert, dass jemand, der die Haarer schlimm findet, ja kein Nazi sein kann. Wenn es doch nur so einfach wäre!

Das ständige Herausheben von Johanna Haarer führt außerdem dazu, dass verkannt wird, wie tief verwurzelt in unserer Gesellschaft der Blick auf das Kind als ein defizitäres, zurechtzubiegendes und manipulatives Wesen ist. Wer dir sagt, du sollst dein Kind schreien lassen, es nicht verwöhnen und nicht "vor der Zeit" füttern oder stillen, der hat nicht etwa Nazi-Methoden verinnerlicht. Vielmehr liegt diesen Ratschlägen die Angst vor ungeregelten und unerprobten Maßnahmen zugrunde. Regeln geben eben auch eine gewisse Sicherheit.

In unserer Gesellschaft verankert wurden diese Dinge um die Wende zum 20. Jahrhundert. Wir wären vielleicht schon wieder weiter davon weg, wenn wir nicht die Schwarze Pädagogik noch mitgenommen hätten. Aber auch in anderen westlichen Ländern sind diese Ansichten bis heute weit verbreitet und tief verankert.

Unsere gesellschaftlichen Strukturen sind aufgebaut auf preußischer Disziplin und Ordnung. Darum können wir nicht bei Haarer aufhören hinzuschauen. Die Ursachen liegen viel tiefer und lassen sich nicht auflösen, wenn wir uns mit "Die Haarer ist Schuld" als Erklärung zufrieden geben. Vielmehr müssen wir uns damit beschäftigen, wie wir unseren Mitmenschen die Sorge darum nehmen können, dass das Kind niemals durchschlafen oder gar zum Tyrannen wird. Wir müssen uns damit beschäfigten, woher diese Sorgen kommen.

Es ist in erster Linie ein Generationenkonflikt, der hier ausgetragen wird. Denn langsam aber sicher fassen Attachment Parenting, Bindungsorientiert und Co in der breiten Gesellschaft Fuß. Die neuen Eltern dürfen sich aber immernoch dieselben Sprüche anhören, wie wir vor 15, 20, 30 Jahren. Die Großeltern können nicht verstehen, warum ihre Enkel so anders erzogen werden. Hinter ihren Ratschlägen und Sprüchen steckt jedoch nicht die Absicht, das Kind kaputt zu machen, sondern im Gegenteil die Sorge um seine Gesundheit und seinen Stand in der Gesellschaft. Denn sie haben gelernt: wer sich nicht einfügt, hat es schwer.

Wenn neue Erziehungsformen zu einer gerechteren, offeneren und friedlicheren Gesellschaft führen sollen, dann kann das nur funktionieren, wenn wir die Altlasten an ihren Wurzeln anpacken. Es kann kein Dialog entstehen, wenn wir den Groß- und anderen Eltern unterstellen, ihren Kindern mit "Nazi-Methoden" Schaden zuzufügen. Das ist ein Totschlagargument.

Das Mind-Set des Großteils der Gesellschaft muss sich ändern, damit der ständige Kampf gegen eingefahrene Erziehungsmethoden Erfolg hat. Das braucht Zeit, Geduld und Beharrlichkeit. Es braucht politische Maßnahmen wie Kinderrechte. Es braucht Bindungsförderung. Es braucht Aufklärung über die Entstehung und Folgen von kindlichen Traumata. Es braucht Aktivismus. Es braucht den Dialog.

All das kann viel nachhaltiger und effektiver angegangen werden, wenn wir uns darüber klar werden, warum wir mit diesen Maßnahmen auf Widerstand stoßen. Das passiert nämlich nicht, weil da mal eine Frau Haarer ein paar Bücher geschrieben hat. Auch nicht, weil im Dritten Reich Schwarze Pädagogik propagiert wurde. Das ist nur die Spitze des Eisbergs.

Den gesamten Eisberg darzustellen, habe ich mir mit diesem Blog zum Ziel gemacht. Auch Strategien und Materialien für den Umgang mit Generationenkonflikten gehören dazu.

Wir können gemeinsam den Fokus verschieben von Johanna Haarer und den Nazis auf das Erkennen struktureller Ursachen bindungsfeindlicher Praktiken und letztlich auf Lösungsfindung. Machen wir darauf aufmerksam mit #mehrAlsHaarer wann immer ihr Name fällt!

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In dieser Reihe:

Teil 1 - Wie Johanna Haarer heute wahrgenommen wird

Teil 2 - Vorläufer der schwarzen Pädagogik

Teil 3 - Der NS-Staat und seine Erziehungspropaganda

Teil 4 - "Die Mutter und ihr erstes Kind" und andere Nachkriegsratgeber