Wiegen sind selten geworden. Ob man eine für sein Kind benutzen möchte oder nicht, ist mehr eine Geschmacksfrage als ein Diskussionsgrund. Obwohl Wiegen eine jahrhundertelange Tradition haben, wurden sie im 18. und 19. Jahrhundert zum Streitfall bis schließlich feststehende Bettchen und Stubenwagen den Gebrauch der Wiegen weitestgehend abgelöst hatten.
Die ersten Einwände gegen die Wiegen betrafen gesundheitliche Aspekte. Man fürchtete, dass das Wiegen schädlich sein könne. Der Schaden sollte laut der Ärzte sowohl durch die Bewegung als auch durch Zugluft entstehen. Allerdings klingt die Beschreibung des zu heftigen Wiegens eher nach Schütteln und Rütteln. Und Schütteln ist für Babys wirklich lebensgefährlich! Da fragt man sich, wie die Wiegen benutzt wurden, dass diese Warnungen notwendig schienen.
Es gab jedoch viele moderate Stimmen, die die Wiegen bei korrektem Gebrauch für harmlos befanden.
Ueber die Wiegen sey es erlaubt noch ein Paar Worte insbesondere zu sagen. Die neuern Erzieher, und mit ihnen manche Aerzte, haben die Wiegen als nachtheilig für die Gesundheit der Kinder fast in den Bann gethan. Man fürchtet nämlich, daß die schwankende Bewegung der Wiege dem Kinde schädlich werden könne. Betäubung, Schwindel, Erschütterung des Gehirns, hat man gesagt, seyen unvermeidliche Folgen, und man gibt nicht undeutlich zu verstehen, daß die Kinder dadurch dumm gemacht werden könnten. Allein dieser Glaube läßt sich theils mit Gründen, theils durch die Erfahrung widerlegen. Sehr ausgezeichnete Aerzte haben daher die Vertheidigung des uralten Gebrauches der Wiegen, welche schon die Römer kannten, übernommen. Die unangenehme Empfindung welche Erwachsne von einer schaukelnden Bewegung in horizontaler Lage bekommen, findet bei dem Kinde nicht statt, das noch an die aufrechte Stellung nicht gewöhnt, und noch nicht dazu fähig ist. Im Gegentheil scheint sie dem Kinde, das vor seiner Geburt einer ähnlichen schaukelnden Bewegung im Mutterleibe ausgesetzt war, ganz behaglich zu seyn. Endlich lehrt die Erfahrung, daß tausend und aber tausend Kinder ohne Nachtheil gewiegt wurden. Man darf mithin das Wiegen wenn es eine mäßig schaukelnde Bewegung bleibt, und nicht bei vollem Magen des Kindes unternommen wird, wohl für einen unschädlichen Gebrauch erklären.
Adolph Henke, Taschenbuch für Mütter, 1832
Der berühmte Christoph Wilhelm Hufeland machte sich über die Kritiker sogar lustig, da er herausstellte, dass diese ja selber gewiegt worden seien.
Man hat gewaltig gegen das Wiegen geschrieen, und versichert, daß es die Kinder dumm mache, - ohnerachtet eben diese gewiegten Kinder es sind, die so scharfsinnig dagegen declamiren und dadurch, wenigstens für ihre Person, die beste Widerlegung geben -; von der andern Seite hat man das Wigen als die unschädlichste Sache dargestellt. Wem soll man nun glauben? Mich dünkt, man ging, wie gewöhnlich, auf beiden Seiten zu weit. Ein heftiges Wiegen muß durchaus schaden, es kann allerdings die Nerven und den Kopf schwächen, und leicht mechanische Verletzungen des Körpers veranlassen; ein mäßiges Wiegen hingegen scheint mir die unschuldigste und zweckmäßigste Bewegung für die erste Lebensperiode zu seyn. Nur entsteht hierbei ein anderer Nachtheil, daß die Kinder sich zuletzt so daran gewöhnen, daß sie beständig gewiegt seyn wollen, und dieses fast unaufhörliche Wiegen auch wieder nachtheilig wird.
Christoph Wilhelm Hufeland, Guter Rath an Mütter, 1830
Doch zu der Gesundheitsfrage kam wieder einmal die Angst vor dem Verwöhnen hinzu.
Ein feststehendes Lager, ein Bettchen oder ein Korb ist viel besser als eine Wiege, durch eine Wiege hat man zwar für die erste Zeit den scheinbaren Vortheil, daß man das Kind leichter beruhigen kann, aber erstens schreit das Kind in den ersten Tagen nur, wenn es irgend ein Bedürfniß oder eine Pein hat, und dem muß abgeholfen werden; und zweitens bereitet man sich für viele Monate unsägliche Plage, wenn man das Kind an ein solches Betäubungsmittel gewöhnt, denn es schläft dann ungewiegt gar nicht ein.
Dr. Johann Christian Gottfried Jörg, Lehrbuch der Hebammenkunst, 1864
Diese Angst gewann immer mehr die Oberhand. Bloß nicht das Kind an etwas gewöhnen, was man dann immer tun oder mühsam abgewöhnen muss! Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten die Ärzte den Kampf gegen die Wiege anscheinend gewonnen.
Wiegen stehen, wenigstens in den besseren Bevölkerungsklassen, kaum mehr in Verwendung, da wie mit der Zeit einsehen gelernt haben, daß die durch das Schaukeln erzielte Beruhigung des Kindes keine wünschenswerte Art der Erreichung dieses Zwecks darstellt.
Prof. Dr. Rudolf Fischl, Allgemeine Körperpflege und Hygiene des Kindes im frühen Kindesalter, 1907
Die Wiege war früher allgemein im Gebrauch. Wenn auch ein schädlicher Einfluß auf das Gedeihen des Säuglings durch den Gebrauch der Wiege nicht nachgewiesen werden kann, so ist doch zu begrüßen, daß sie außer Gebrauch gekommen ist, denn das Kind wird an die Schaukelbewegungen gewöhnt und ist später oft schwer von ihnen zu entwöhnen.
Dr. Otto Köhler, Der Säugling - seine Entwicklung, Pflege, Ernährung, 1921
Pflegeleicht sollten Kinder nun sein. Und das hieß vor allem: keine Arbeit machen und nicht auffallen. So sind Kinder aber nun mal von Natur aus nicht. Um Kinder muss man sich kümmern und das fordern sie auch ein. Je mehr man aber erwartet, dass sie genau das nicht tun, desto größer muss die Frustration darüber werden, dass die Kleinen sind, wie sie sind. Da gerät man leicht in eine Spirale der Verweiflung. Die Folge sind emotionale Abgrenzung vom Kind und Aggressionen.
Nie aber ist der Gebrauch der sogenannten Wiegen zu empfehlen, d.h. Bettchen, welche eine Axe tragen, die sich in einem Gestelle dreht, oder deren Füße auf Kufen stehen, mittels welcher die Wiege zur Beruhigung oder Einschläferung des Kindes in Bewegung gesetzt wird. Von Anfang an weiß kein Kind etwas vom Schaukeln, Wiegen oder Eintragen! Es schläft ruhig ein. Warum später nicht mehr? Weil es die Umgebung verwöhnte, sich und dem Kinde zur Qual; denn nun will es den ganzen Tag getragen werden oder bis zum jedesmaligen Einschlafen gewiegt werden! Es ist aber weder das Wiegen noch das Herumtragen ein Beruhigungsmittel. Schreit aus diesem Grunde - wir zählten diese Art des Schreiens zur Ungezogenheit in Folge von Verzogensein! - so gewöhne man das Kind daran, daß man auf dieser Welt seinen Willen nicht immer durchsetzen kann. Man lasse es schreien, nachdem man sich überzeugt, daß eine andere Ursache dazu nicht vorliegen kann. Es wird nach 3 Tagen sich wieder an das Ruhigliegen gewöhnt haben. Diejenigen aber meiner liebenswürdigen Leserinnen, welche ihr Kind lieb haben und sich selbst dieses Opfer ersparen wollen, mögen den Wiegenmechanismus sofort von Anfang an außer Thätigkeit lassen und nur ein Bettchen als Ruheplatz ihres Lieblings benutzen!
Dr. med. Ernst Kormann, Das Buch von der gesunden und kranken Frau, 1883
Das ist so hart und grausam! Da lobe ich mir Adolph Henke und schließe mit einem Zitat von ihm.
In diesem Zeitraume, wo die Kinder zu selbstständigen Bewegungen noch so wenig fähig sind, können ihnen mancherlei passive Bewegungen verschafft werden, über welche hier einige Bemerkungen nicht am unrechten Orte seyn werden, da sie auf die Entwicklung des Körperbaues, und mithin auf die Gestalt und Gesundheit der Kinder, einen nicht unwichtigen Einfluß haben können. Ausser den schaukelnden Bewegungen, welche die Mütter oder Wärterinnen den Kindern indem sie auf dem Schooße liegen, oder auf beiden Armen gehalten werden, verschaffen können, gehören die Bewegungen in Wiegen oder den auf Rollen stehenden Korbwagen und Betten hieher. Alle diese Bewegungen sind an sich heilsam, und können nur dann schädlich sein, wenn man sie übermäßig und gewaltsam vornimmt. Das Fahren in Korbwagen ist vorzüglich zu empfehlen, weil dabei dem Kinde, das in Betten liegt, der freie Gebrauch seiner Glieder verstattet werden kann.
Adolph Henke, "Taschenbuch für Mütter", 1832
Auf dem Arm und dem Schoß kann man auch große Kinder noch wiegen. Also geht jetzt hin und umarmt Eure Kinder!