Der Tragemantel war insbesondere in Sachsen und Thüringen weit verbreitet. Meist war er eine Art zweilagiges Cape, in dessen äußere, kürzere Lage das Baby oder Kleinkind gewickelt wurde, um es bequem tragen zu können und dabei die andere Hand frei zu haben. Mit Sicherheit war diese Art zu tragen nicht so ergonomisch wie heutige Tragetücher oder Tragehilfen. Die Alternativen waren damals aber, das Baby wie ein Bündel in Tücher oder Bänder einzuwickeln und das Kleinkind auf dem Unterarm wie auf einem Stuhl sitzen zu lassen. Das aufrechte Tragen eines Babys wurde für rückenschädigend gehalten und das Tragen auf der Hüfte war anscheinend so undenkbar, dass es nicht einmal erwähnt wird.
"Das Tragen der Kinder verdient eine eigne Erwägung. In den frühern Zeiten, wo der Körper des Kindes, und besonders das Rückgrat desselben noch nicht Festigkeit genug hat, um sich aufrecht zu erhalten, soll das Kind niemals frei sitzend, sondern mit der gehörigen Unterstützung im Rücken und Nacken, eingewickelt, oder liegend (in einem Körbchen, einer Matratze u.s.w.) getragen werden. Auf solche Weise erleidet der weiche, leicht verschiebbare und nachgiebige Körper des Kindes keine Gewalt, und es ist keine Verschiebung durch anhaltenden schädlichen Druck zu fürchten.
Späterhin, nach dem ersten halben Jahre, pflegen die Wärterinnen die Kinder häufig auf dem Arme frei sitzend, oder in einen Mantel eingeschlagen, zu tragen. Dieser Gebrauch macht eine Erinnerung nöthig, weil er leicht schädliche Folgen haben kann.
Einmal soll man Kinder überhaupt nicht zu viel tragen lassen, weil man sie dadurch verwöhnt, und die Entwicklung ihrer eignen Muskelkräfte nur zurückhält, weshalb auch solche Kinder immer viel später gehen lernen.
Ausserdem hat aber das häufige Tragen auf dem Arme noch andere, und größere, Natheile. Gewöhnlich nämlich trägt die Wärterinn das Kind auf dem linken Arm, indem sie mit der Hand die Beine des Kindes umfaßt. Meistens lehnt sich das Kind mit dem Körper gegen die Brust und den Hals der Tragenden, umfaßt auch wohl den Nacken mit dem rechten Arme. Der Körper des Kindes erhält dadurch eine schiefe Richtung, das Schulterblatt und die eine Seite der Brust wird dadurch nothwendig schief in die Höhe gezogen; das Rückgrat wird seitwärts gekrümmt, durch den anhaltenden Druck auf die Hüften des Kindes werden die noch biegsamen und nachgiebeigen Beckenknochen verschoben, durch die beständige Krümmung der Beine geschwächt, und dadurch unvermeidlich schiefe Beine veranlaßt.
Es versteht sich, daß alle diese üblen Folgen nicht nach einem kurzen Tragen der Kinder auf dem Arme entstehen; aber sie sind fast immer in höherm oder geringerm Grade bemerkbar, wenn verzärtelte, verwöhnte, kränkelnde Kinder, wie meistens zu geschehen pflegt, fast unabläßig von der Wärterinn getragen werden müssen. Oft zeigen sich die Folgen nicht unmittelbar, sondern werden erst später wahrgenommen, wo man oft an die eigentliche Veranlassung nicht mehr denkt. Ein schiefer Wuchs, eine hohe Schulter, ein enges verschobenes Becken sind, besonders bei Mädchen, gar nicht selten die Folgen dieser nicht genug beachteten üblen Gewohnheit.
Werden die Kinder, in der obigen Stellung frei auf dem Arme sitzend, ohne Mantel getragen, so kommt noch die Gefahr des Ueberschlagens und Herabfallens hinzu, das um so mehr unheilbare Uebel und Fehler der Gestalt veranlassen kann, je mehr die Wärterinnen geneigt sind, einen solchen unglücklichen Fall zu verhehlen.
Jede Mutter sorge also dafür, daß ihr Kind so wenig als möglich auf solche Weise getragen werde, und wenn es getragen werden muß, daß die Wärterin öfter mit dem Arme wechsle! -
Taschenbuch für Mütter, Band 1, Adolph Henke, Frankfurt am Main, 2. Auflage, 1832, S. 248ff
"Falsches" Tragen war insbesondere Ärzten (und somit den Autoren der Erziehungsratgeber) im 19. Jahrhundert ein Dorn im Auge. Schiefwuchs war nicht zuletzt durch Rachitis ein weit verbreitetes Problem. Doch obwohl viele Ärzte das traditionelle enge Wickeln als schädlich für das Wachstum erkannt hatten, kamen sie nicht auf den Gedanken, das Tragen zu verbessern, sondern wollten es am liebsten ganz abschaffen.
"Schon in den ersten Lebenstagen wird das Kind täglich eine Zeit lang getragen werden müssen. Für die Wärterinn ist es das Bequemste, das Kind in einen Mantel einzuklemmen und es auf diese Art zu tragen; aber für das Kind ist es nicht heilsam. Da das Kind in der ersten Zeit warm eingewickelt ist, also keine Erkältung in dem ohnehin warmen Zimmer befürchtet werden kann, so lasse man es vielmehr so auf beiden Armen tragen, daß der Kopf des Kindes höher liegt und es seine Glieder ausstrecken kann. Auch dahin ist immer zu sehen, daß die noch schwachen Augen des Kindes nicht dem vollen Lichte, oder dem Lichte von einer Seite ausgesetzt werden, indem das Kind im ersten Falle leicht eine Augenentzündung davon tragen, im letzten Falle schielen wird. Schreiet das Kind heftig, so muß seine Lage verändert werden, und da Leibschmerzen gewöhnlich die einzige Ursache seines Geschreies sind, so wird das Geschrei gewöhnlich bald aufhören, wenn die Wärterinn das Kind sanft an sich drückt. Späterhin, wenn das Kind das Zimmer verläßt, ist es zwar nothwendig, daß es in einem Mantel getragen wird, und es ist, besonders bei lebhaften Kindern, sicherer, wenn die Wärterinn den Mantel trägt, als wenn man dem Kinde einen Mantel umhängt; aber es darf nicht zu fest eingepreßt werden. Befindet es sich im Freien, so muß es umhergetragen und besonders sorgfältig von Zugluft, gegen welche die Wärterinnen in der Regel ganz unempfindlich sind, bewahrt werden. Noch mehr Freiheit gewährt es dem Körper des Kindes, wenn man es in einem kleinen Wagen fährt, und selbst die Erschütterung, die es dabei erleidet, stärkt seine Nerven und Muskeln. Dahin ist aber auf jeden Fall zu sehen, daß das Kind nicht zu rasch und unvorsichtig gefahren werde, da ein Umwerfen des Wagens für den zarten Körper sehr nachtheilige Folgen haben kann."
Der Kinderwagen kam Mitte des 19. Jahrhunderts auf und wurde von Ärzten nicht nur aus gesundheitlichen Gründen gepriesen. Er sollte auch moralische Vorzüge haben, da die das Kind betreuende Person damit nicht überall hin konnte.
"So sehr es wünschenswerth ist, daß der Kinderwagen den Kindermantel der Wärterin ersetze, so giebt es doch noch vorurtheilsstarre oder zu nachsichtige Mütter, welche den Mantel, dieses Kleidungsstück, welches viele Krüppel aus sich hervorgehen ließ, noch dulden, namentlich weil Wärterinnen nicht gern mit dem Wagen ausgehen; jüngere können mit diesem Fuhrwerke nicht überall heimlich hinschlüpfen, wo sie nicht hin sollten, in dumpfe Stuben ihrer Bekannten und Verwandten, auf Plätze des Stelldicheins; ältere Wärterinnen halten es unter ihrer Würde, "in der Karre zu fahren", und stolziren lieber im Mantel mit langem Behänge umher, um ihr Kind zu repräsentiren und sich dem Publikum zu empfehlen. Das Tragen im Mantel, worin das Kind eigentlich hängt und mit eingepreßten, gekrümmten Beinen und schiefgedrängter Hüfte den Oberkörper balancirt, geschieht gewöhnlich auf einer Seite, der linken der Wärterin; in dieser abnormen Lage verweilt das Kind oft täglich stundenlang und, wenn es einschläft, sinkt es mit verdrehtem Rückgrat in sich gebogen zusammen auf die Schulter und Brust der Wärterin. Die Folge davon ist, daß die in der Entwicklung befindlichen Beine, Hüftknochen und Rückenwirbel in einer abnormen Lage sich gegenseitig beengen, verschieben, die Gelenkknorpel und Bänder sich unregelmäßig ausbilden und eine Stellung eingehen, die durch die abnorme Muskelaktion, bei theils erschlafft, theils verkürzt gehaltenen Muskeln, zu einer allmähligen Verschiebung und Deformität führt. Da die rechte Seite des Kindes mit dem rechten Arme an den Körper der Wärterin gepreßt ist, so leiden nicht nur die inneren Organe sondern auch Rippen und Arm dieser Seite in ihrer gleichmäßigen Entwicklung, und das Kind gewöhnt sich, mit dem freien, linken Arme allein zu agiren, woher sich das häufige, sogenannte Linkssein schreibt, weil die linke Hand mehr Kraft und Uebung erhält. Diese Andeutungen, die sich noch weiter ausführen und mit vielen Thatsachen an verunstalteten Fuß-, Bein-, Hüft-, Wirbel-, Rippen- und Brustknochen nachweisen ließen, mögen genügen, um Mütter vor dem Kindermantel zum "Promeniren der Wärterin", als einer Ursache mancher Entwicklungshemmung und lebenslänglicher Verkrüppelung zu warnen, und sich solcher eigensinnigen Wärterinnen ohne Nachsicht zu entledigen, welche sich im falschen Dünkel weigen, nicht "in der Karre" gehen zu wollen."
Die Mutter als Erzieherin, Dr. med. Hermann Klencke, 1869, S.200f
Doch bevor der Kinderwagen aufkam, wurde es für besser erachtet, das Kind liegen oder sitzen zu lassen, als es zu tragen. Nicht zuletzt aus der Überzeugung heraus, das Kind würde dann schneller krabbeln ("kriechen") lernen.
"Laß es aber nie zu lange sitzen; die zarten Rückenknochen können die Last nicht lange tragen, und wechsle immer mit Liegen, Sitzen und Tragen ab. Das beständige Tragen, vorzüglich in gedrückter Stellung, fest in den Mantel gepackt, ist auch schädlich, da die Knochen noch ohne Festigkeit sind. Doch halte ich einen vorsichtig um das Kind gefaßten Kindermantel, der jetzt in vielen Ländern ganz verworfen, in andern dagegen unentbehrlich erscheint, für weit zweckmäßiger, als das fest gehaltne, auf einem Arm fortwährende Tragen in einem kleinen, den das Kind trägt. Nichts schützt ein sich hin und her werfendes Kind mehr sowohl den Rücken, als vor Herabfallen. Kann es erst ohne Hülfe von Polstern sitzen, so laß es oft auf dem Fußteppiche sitzen und liegen, neben sich allerhand Spielzeig, das fortrollt und beweglich ist; bald wird es sich nachbewegen, und die fortgerollte Kugel durch Kriechen erreichen."
Gesammelte Briefe von Julie, Band 3, Caroline Engelhard, Leipzig 1830, S. 113f
Die energischeren unter den Ratgebern wollten dann gleich die Wärterin entlassen, wenn diese sich nicht an die elterliche Anweisung, keinen Tragemantel zu nutzen, halten wollte. Es wurde der Wärterin unterstellt, das Kind unter dem Mantel unsittlich zu berühren.
"Ich weiß nicht, ob mans schon gesagt hat, doch ists wol kaum anders möglich, als daß es schon oft gesagt ist, da es jedem so leicht einleuchten muß - daß ein Viertheil der Kinder wenigstens nicht vest genug gebauet sein dürfte, um nicht durch täglich mehrstündiges Tragen in Kindermänteln unhintertreiblich zu Krüppeln werden zu müssen. Sie hangen da mehr als sie getragen werden, legen immer den einen Arm auf die Schulter oder gegen die Seite der Wärterin, hangen so an diesem Hauptruhepunkte, und daher muß nothwendig ein sehr starker Arm der Wärterin, oder ein außerordentlich vester Körperbau des Kindes dazu gehören, wenn nicht die eine Schulter in die Höhe gehoben und der Rükgrad verschoben werden sol. Doch dies sei nur im Vorbeigehn denen gesagt, welchen das Uebel, wovon ich hier rede, vielleicht noch viel weniger als der ebengesagte Nachtheil einleuchten möchte. Aber den Gefallen können doch verständige Aeltern mir und ihren Kindern leicht thun, daß sie bei jeder etwannigen Ueberraschung darauf merken, wo die Wärterinnen die ledige Hand haben, wenn sie mit dem andern Arm das Kind, sei es Sohn oder Tochter, in dem Mantel tragen. Und finden sie, was sie bei gehöriger Aufmerksamkeit wol nicht selten finden möchten: so mögen sie, wenn ihre Kinder ihnen lieb sind, entweder die Wärterin, oder wenigstens die Mäntel aus dem Hause schaffen. Wolten sie in solch einem Falle auf die schale Ausrede Rüksicht nehmen, daß es ohne Mantel nicht möglich sei, das Kind lange zu tragen: so würden sie sehr unrecht thun. Denn gerade dies beweist ja, daß dasselbe mehr hängt als getragen wird, und in einer unnatürlichen Lage ist. Und worin begründet sich denn die Nothwendigkeit des vielen und langen Tragens? Alles Tragen gibt dem Kinde Gelegenheit, sich seine schiefe Stellung zu geben und in derselben immer mit derselben Schulter gegen zu liegen, und wird also überhaupt leicht Veranlassung der Verkrüpelung. Man gewöhne doch also das Kind mehr zum Sitzen und Liegen, und früher zum Kriechen!"
Doch nicht nur Wärterinnen und Ammen benutzten Tragemäntel. Diese waren fester Bestandteil im Familienleben und die Kinder wussten genau, wofür sie da waren, wie folgende Geschichte aus einem Lesebuch zeigt.
Das verlohrne Kind.
Herrn Berheims Kinder saßen alle in der Stube und arbeiteten, als der Vater in einem seltsamen Aufzuge in die Stube trat. Er hatte nämlich den Kindermantel umgehängt, und schien in dem Mantel etwas zu haben.
Die Kinder sahen den Vater groß an. "Was willst du denn mit dem Mantel?" fragten die Kinder: "willst du uns etwa ein Bischen gerumtragen?" setzt die muthwillige Henriette hinzu.
"O ich habe schon zu tragen," antwortete der Vater; ich habe ein armes kleines Kind im Mantel, das seine schlechte Mutter verlassen hat. Sie muß eine recht gottlose Mutter seyn. Seit zwei Tagen ist das arme Kind da, und sie bekümmert sich gar nicht um dasselbe, und fragt nicht, ob es hungert oder dürstet, ob es schreit oder ruhig ist. - Was soll ich machen; ich muß mich doch des armen Dinges annehmen, und da will ich es nun ein wenig herumtragen."
Die Kinder wissen nicht, was sie daraus machen sollen. Sie bemerken doch kein Kind in dem Mantel, und haben auch nichts davon gehört, daß seit zwei Tagen ein Kind im Hause sey.
"Weise uns doch das Kind einmal, Vater;" sagt das Jüngste unter den Kindern, die neugierige Agnese.
Der Vater schlägt den Mantel zurück; die Kinder fangen laut an zu lachen, "Das ist ja, rufen sie, Karolinen ihr Püppchen."
"Hat sie es nicht zu ihrem Kinde angenommen?" antwortete der Vater, "und hat sie es nicht wie ein Kind herumgetragen, gefüttert und gewiegt. Und nun läßt sie es zwei Tage auf meiner Stube liegen? Thut das eine ordentliche Mutter? - Gehören eure kleinen Kinder auf meine Stube?"
Karoline wurde ein ganz klein wenig roth, indessen die andern lachten.
"Vater, sagte Karoline, gib mir mein Kind wieder!"
"Wiedergeben?" antwortete dieser; "das weiß ich noch nicht - es ist mein Fündling; und in einigen Tagen fände ich es doch wohl wieder auf meiner Stube - - lieber behalte ich es gleich."
"Du sollst es gewißt nicht wieder auf deriner Stube finden," sagte Karoline; und "Ja Vater, gib es ihr wieder!" baten und riefen ihre Geschwister.
Unter dem Versprechen, das Puppenkind ordentlich zu besorgen, gab der Vater dasselbe zurück. Seit dieser Zeit hat er es nie wieder auf seiner Stube gefunden.
Kleine Plaudereien für Kinder, welche sich im Lesen üben wollen. 2. Band, Johann Andreas Christian Löhr, Frankfurt am Main, 1802, S. 7ff
Auch wenn es in dieser Geschichte so erscheint, dass ein tragender Mann ein ungewohntes Bild für die Kinder war, so nutzten doch auch Männer nicht selten einen Tragemantel.
"Ich warf den sächsischen Kindermantel über die Schulter, nahm das Kind, und eilte fort."
Was ich erlebte: Aus der Erinnerung niedergeschrieben von Henrich Steffens, Bände 5-6, 1842, S. 193
Männer jeden Alters.
"Kinderwärterinnen halten einen Mantel für unentbehrlich; zuweilen sieht man auch einen Greis, der sein Enkelchen trägt, mit dem „Kindermantel“ umhüllt."
Landeskunde des Fürstenthums Schwarzburg-Rudolstadt, Berthold Sigismund, 1862, S. 62
Der Tragemantel wurde um die Wende zum 20. Jahrhundert endgültig vom Kinderwagen verdrängt und geriet in Vergessenheit. Heute gilt Tragen als "neumodisch", obwohl es die ursprünglichste Art ist, ein Kind von A nach B zu bewegen.