Was ist so besonders am Willen des Kindes? Warum darf das Kind seinen Willen nicht kund geben, geschweige denn durchsetzen? Wo steht das Kind in der gesellschaftlichen Hierarchie?

Dem Kind fehlt das Wissen und die Einsicht. Das wurde als großes Manko angesehen. Kinder seien noch keine fertigen Menschen. Sie seien noch im Werden begriffen. Das Wissen sollte aber über den Instinkt herrschen.

"Vom ersten Lebenstage ab haben wir es schon in der Hand, den kindlichen Willen den gültigen Anschauungen von dem, was man als richtig anerkennt, anzupassen."

Der Säugling – seine Ernährung und seine Pflege, Dr. Walther Kaupe, 1907

Das „Durchsetzen“ geschieht beim Baby durch Weinen und Schreien. Entsprechend wenig hielt man vom Schreien.

"Um den Säugling rechtzeitig an Ordnung zu gewöhnen, muß in der Pflege eine strenge Regelmäßigkeit beobachtet werden. Diese Forderung betrifft vor allem die Mahlzeiten, die stets zur selben Zeit gereicht werden sollen. Das Maß der Ernährung, das Aufnehmen auf den Arm usf. sind Maßnahmen, die von der Mutter oder Pflegerin bestimmt werden. Das Kind hat sich mit seinen Wünschen unterzuordnen. Es bietet oft Schwierigkeiten, eine Mutter von dieser Grundregel zu überzeugen. Selbst ein junger Säugling empfindet sehr bald, ob er seinen Willen durchsetzen kann oder nicht."

Der Säugling – seine Entwicklung, Pflege und Ernährung, Dr. Otto Köhler, 1921

„Wer führen will, muss dienen lernen“, war ein Leitspruch in der Nazi-Zeit. Die Unterordnung des Kindes unter den Willen des Erwachsenen war höchstes Erziehungsziel.

"Das Hinzutreten der besorgten Mutter oder einer anderen Pflegeperson löst dann sofort ein befriedigtes Lächeln aus. Der beste Beweis dafür, daß er es nur darauf abgesehen hatte, seinen kleinen Willen durchzusetzen und unterhalten zu werden. Aus diesem Benehmen geht deutlich hervor, daß sich die Mutter nicht mehr als nötig mit ihrem Kleinsten beschäftigen und keine allzugroße Willfährigkeit seinen Wünschen gegenüber aufkommen lassen soll. Und wenn es ihr auch manchmal schwer fallen sollte, dem oft recht gebieterischen Geschrei des kleinen Tyrannen nicht nachzugeben, wird sie sich bald davon überzeugen können, daß ihr Verhalten richtig war. Das Kind sieht schließlich das Erfolglose seiner Bemühungen ein, wird ruhig und gibt sich dann auch zufrieden, ohne daß man ihm Gesellschaft leistet."

Kinder – Glück und Sorge der Mutter, Dr. med. Luise von Seht, 1939

In einem solchen Umfeld hat das Kind keine Chance ernst genommen zu werden. Wie soll es denn auf die Annäherung der Mutter reagieren, damit sein Weinen als „berechtigt“ angesehen wird? Der kindliche Wille ist hier nur dazu da, gebrochen zu werden.