Familienleben einst & heute

"Wohlmeynender Rath für Aeltern" aus 300 Jahren Erziehungsratgebern und wie dieser sich bis heute auswirkt.

In dem Nachschlagewerk "Mutter und Kind - Ein Lexikon der Kinderstube" steht unter dem Buchstaben A auch der Begriff "Angst". Das Buch erschien Ende des 19. Jahrhunderts und beinhaltet unter anderem harte Tipps zum Abstillen und Ratschläge zur Ammenhaltung. Die Autorin schrieb unter dem Namen J. von Wedell. Sie war eine Adlige und offenbar sehr wohlhabend. Was für Ansichten hatte so jemand über kindliche Angst?

Gehorsam gehört seit Ewigkeiten zu den höchsten Erziehungszielen. Auch heute noch spielt Gehorsam der Kinder für viele Eltern eine große Rolle. Doch der Grad des erstebten Gehorsams ist heute längst nicht mehr so groß wie früher. Blinder Gehorsam musste es sein. Heute reden wir lieber von Kooperation und suchen den Fehler nicht allein im Kind, wenn es mit der Kooperation nicht so klappt wie gewünscht. Das Miteinander ist wichtiger als die Befehlsgewalt und wir wissen, dass Kinder prinzipiell kooperieren wollen. Sie wünschen sich genauso ein harmonisches Miteinander wie wir Großen.

"Beginnt das Kind umherzukriechen, ist der Laufstall zu empfehlen, wenn nicht die Bettstelle für diesen Zweck eingerichtet werden kann. Das Kind ist im Laufstall gut aufgehoben, kann sich an den Stäbchen aufrichten, lernt darin gehen, ohne sich überall hinbewegen zu können, so daß es gleichzeitig auch zur Selbstbeherrschung erzogen wird."

Der gesunde Säugling - Seine Entwicklung Ernährung Pflege, Philipp Niemes, 1933

In seinem Buch "Die sozialen Ursachen der Säuglingssterblichkeit" widmete Gustav Temme 1908 den Kindern der Fabrikarbeiterinnen ein eigenes Kapitel. Nicht ohne Grund.

In der wachsenden Industrialisierung waren immer mehr Frauen gezwungen, in Fabriken arbeiten zu gehen. Die Armut trieb sie dazu. Es gab kaum genug zu Essen. Die Armut verhinderte auch, dass sie sich angemessene Kinderbetreuung leisten konnten. Die Folgen waren verheerend für die Kinder.

Die folgenden Empfehlungen stammen aus "Der gesunde Säugling - Seine Entwicklung Ernährung Pflege", Philipp Niemes, 1933

Beikost wird laut Philipp Niemes erforderlich ab dem "dritten Lebensvierteljahr", also im Alter von 6-9 Monaten. Es sei aber praktischer, schon im Alter von 3 Monaten zu beginnen, da sich das Kind dann angeblich leichter an die Beikost gewöhne. 

Hast du dir schon mal darüber Gedanken gemacht, wo die Milch her kommt, wenn Dein Baby Muttermilchersatz bekommt? Nein, ich meine nicht, von welchem Hersteller. Ich meine auch nicht, aus welchem Land sie kommt oder aus welchen Stoffen sie hergestellt wird. Ich meine, von welcher Kuh sie kommt.

Zu Zeiten als es noch keine standardisierte Ersatznahrung gab, war das durchaus eine Information, die wichtig für die Eltern war.

"Das Tragen des Kindes ist eigentlich stets unnöthig, weil eine Verwöhnung. Ist aber ein Kind einmal verwöhnt, so ist daran meist nicht viel zu ändern."

Das Buch von der gesunden und kranken Frau, Dr. med. Ernst Kormann, 1883

In dieser bemerkenswerten Erzählung von 1897 sehen wir deutsche Arroganz, Kinder- und Fremdenfeindlichkeit in Hochform.

"Es ist nicht lange her, da kam ein reicher Deutsch-Amerikaner mit seiner Familie nach Kissingen. Hier kaprizierte sich seine mit guter europäischer Erziehung und guter europäischer Lebensart nur wenig vertraute Gattin darauf, ihren halbwüchsigen Sohn als Gast und Tänzer in die für die Kurgesellschaft veranstalteten Tanzreunionen einzudrängen.

Den folgenden Abschnitt finde ich einerseits sehr einfühlsam geschrieben, andererseits wirft er viele Fragen auf.

"Die gewaltigen Umwälzungen, die die ersten Wochen der Ehe bei der jungen Frau in körperlicher und geistiger Beziehung hervorbringen, zwingen zu einer neuen Form der Lebensführung. Neue Gefühle, neue Interessen sind erwacht; die Aufgabe einen Haushalt zu leiten, das Leben des Mannes bequem zu gestalten, nimmt ihre Kraft mehr in Anspruch als sie vielleicht vorher vermutete. Die Wirkungen dieser neuen Lebensart zeigen sich deutlich in der ganzen Erscheinung, und es ist merkwürdig, welche Veränderungen in gutem wie in schlechtem Sinne oft nach kurzer Ehe das Gesicht einer Frau dem Beschauer bietet.

"Für die Ernährung der stillenden Frau gibt es eine unantastbare Tradition, die alles verbietet, was die Frauen gern essen, alles verordnet, was ihnen den Appetit vertreiben könnte, und das Bier, weil es "Milch macht", besonders empfiehlt. Die Wochenbettstube war ja seit jeher eine Brutstätte aller Bakterien des Aberglaubens und ist es trotz der vielen gründlichen Desinfektionen bis heute geblieben."

Vernünftige und unvernünftige Mütter, Dr. Heinrich Keller, 1917

In Deutschland gibt es derzeit eine handvoll Krankenhäuser, in denen teil- oder nicht gestillten Neugborenen Stutenmilch statt abgepumpter Frauenmilch oder Pre-Nahrung gegeben wird. Auch manche Eltern möchten ihren Kindern lieber Stuten- oder Ziegenmilch als Pre geben, weil sie das für natürlicher und damit besser halten.