Im Kinderpflege-Lehrbuch von Dr.med. Arthur Keller und Dr. med. Walter Birk von 1914 werden einige erstaunlich korrekte Bemerkungen rund ums Stillen gemacht, die in anderen zeitgenössischen Werken ganz anders stehen. Gleichzeitig werden hier aber auch Ansichten zur Anzahl der Stillmahlzeiten untermauert, die sich aus heutiger Sicht nicht halten lassen. Gehen wir den Text durch und betrachten wir den Wahrheitsgehalt nach heutigem Stand.

"Die Ernährung des Kindes in der ersten Lebenszeit ist für den Staat keine gleichgiltige Sache; denn sie hat auf den allgemeinen Gesundheitszustand und auf das Sterblichkeits-Verhältniß der Bevölkerung einen sehr bedeutenden Einfluß, und viele Menschen werden durch Mißgriffe in der Ernährung während der ersten Lebensperiode für immer schwächlich und kränklich. 

Es kommt gar nicht selten vor, dass Schwangere bezweifeln, dass sie stillen können, weil ihre Mutter nicht stillen konnte. Dabei konnten unsere Mütter und Großmütter meist nur deshalb nicht erfolgreich stillen, weil ihnen von Ärzten und Hebammen Falschinformationen eingebleut wurden.

Dass viele Mütter am Stillen scheiterten wurde jedoch nicht auf die aus heutiger Sicht abstrusen Stillregeln zurück geführt, sondern die Ursache und Schuld wurde bei den Müttern gesucht. Es war durchaus bekannt, dass die Nachfrage das Angebot regelt und die Milchmenge sich anpasst, je mehr oder weniger gestillt wird.

Heute werfen wir mal einen Blick in andere Länder. Nur zu leicht pflegt der Mensch das als normal anzusehen, was er in seinem direkten Umfeld erlebt. Doch was für uns normal ist, muss für andere noch lange nicht normal sein. Ein Blick über den Tellerrand erweitert den Horizont.

Dr. Heinrich Keller prangert unsinnige Essensregeln für stillende Frauen an. Es stimmt, dass Stillende essen können, was sie wollen. Nur selten reagieren Babys auf Stoffe aus dem Essen der Mutter. Selten genug, dass es unsinnig ist, von vornherein bestimmte Lebensmittel zu meiden oder zu bevorzugen.

Die "Liebig'sche Suppe" gilt als erster moderner Muttermilchersatz. Als Justus von Liebig seine "Suppe" 1865 erfand, lebte er in München und war Professor an der dortigen Universität. Seine eigenen Kinder waren längst erwachsen.

Ein früher Konkurrent der Liebig'schen Suppe war das Nestlé'sche Kindermehl. Henri Nestlé erfand es 1867 in Vevey, in der Schweiz. Er war 53 Jahre alt und kinderlos. Geboren wurde er in Frankfurt am Main und seine Familie stammte aus Schwaben.

Die folgenden Beikostempfehlungen stammen aus "Säuglingspflegefibel", Schwester Antonie Zerwer, 1933.

Die "Säuglingspflegefibel" wurde vom Kaiserin Auguste Victoria Haus herausgegeben. Dieses war die "Reichsanstalt zur Bekämpfung der Säuglings- und Kindersterblichkei" in Berlin-Charlottenburg. Die Fibel ist ein Schullehrbuch für Mädchen im Alter ab circa 12 Jahren.

Die folgenden Beikostempfehlungen stammen aus dem Buch "Belehrungen für Schwangere", Dr. Johann Christian Gottfried Jörg, 1826

Neun Monate stillen und das Kind in regelmäßigen Mahlzeiten bei knapper Kost halten, so empfiehlt es Dr. Jörg "in zehn an gebildete Frauen gehaltenen Vorlesungen". Er war Königlich-Sächsischer Hofrat, ordenticher. Professor der Geburtshilfe an der Universität Leipzig, Direktor und Obergeburtshelfer an der Leipziger Entbindungsschule, außerordentlichen Beisitzer der medizinischen Fakultät und Mitglied "mehrer gelehrten Gesellschaften".

Die folgenden Beikostempfehlungen stammen aus dem Buch "Guter Rath an Mütter" von Christoph Wilhelm Hufeland, 3. Auflage, 1830.

Wie zu seiner Zeit allgemein üblich, empfiehlt Hufeland neun Monate lang zu stillen, bis die ersten Zähne durchgebrochen sind. Er ist allerdings der Meinung, dass das nicht bei vielen Frauen möglich sei.

Die folgenden Beikostempfehlungen stammen aus dem Buch "Die ersten Mutterpflichten und die erste Kinderpflege", Friedrich August von Ammon, 6. verbesserte Auflage, Leipzig, 1854

Wie so viele andere Autoren empfiehlt auch von Ammon, neun Monate lang zu stillen. Allerdings fängt bei ihm die Beikosteinführung ebenfalls erst ungefähr zu diesem Zeitpunkt statt, und nicht schon deutlich früher wie bei anderen Autoren. Nachdem die ersten Zähne vollständig da sind, wird die Mittagsmahlzeit ersetzt. Von Ammon betont sehr, wie wichtig es für die Gesundheit von Mutter und Kind ist, langsam abzustillen. Darunter versteht er, eine Mahlzeit pro Woche zu ersetzen, so dass nach vier bis fünf Wochen nur noch eine Stillmahzeit übrig ist, die dann auch bald entfallen kann.

Wenn frau nicht stillt, wie findet sie dann eine Amme für ihr Kind? Sie muss eine Frau finden, die selber vor nicht allzulanger Zeit ein Kind bekommen hat. Da es sich um ein Angestelltenverhältnis handelt, wird die Amme aus der Arbeiterschicht kommen, also gesellschaftlich geringer gestellt sein, als die suchende Mutter. Außerdem wird von der Amme erwartet, dass sie im Hause der Arbeitgeber lebt und ihr eigenes Kind nicht mitbringt. Man sucht also eine Frau, die das Geld wirklich dringend braucht, denn ohne Not trennt sich keine Mutter von ihrem Säugling.